Feindesland
Wir gründen gerade eine Familie, da ist es nicht angebracht, uns selbst mehr als nötig zu gefährden. Wir haben den Russen die Zahlung verweigert, das war schon verwegen genug. Wir haben ein Kinderzimmer gebaut. Mein Motor brummt gerade vor dem gläsernen Hauptbahnhof. Bislang ist noch kein Stahlträger aus dem Dach gefallen.
»Irgendwelche speziellen Smalltalk-Wünsche?«, frage ich. »Ganz allgemein«, sagt der Mann, »nur so unverfänglich. Kein Sport, bitte.«
»Alles klar«, sage ich und setze den Blinker. »Wo soll's denn hingehen?«
»Turmstraße 112.« »Wird gemacht.«
Ich schere aus und fahre los. Den Taxischein habe ich von Agent Schuh bekommen, der Taubstummendarsteller Bassermann und Hartmut sind ebenso ausgestattet. Den Rest der Flotte bilden Mario und sein langjähriger Bekannter, der jetzt das erste Mal im Leben nach acht Jahren Praktika echtes Gehalt verdient. Werkstatt und Verwaltung sind in Gang gebracht. Das Moralministerium hat unser Personal abgesegnet. Für den Wachturm in der Mitte des Geländes mussten wir im Gegenzug einen ordentlichen Bummel durch die Spending-Mall machen. Die Neonazis haben sich nicht wieder gemeldet, die Russen auch nicht. Vielleicht hat Rolands Bericht sie überzeugt. Oder unser Geschützturm. Hartmuts Pressemitteilung hat bislang nirgendwo auch nur einen einzigen Artikel verursacht. Stattdessen gab es fast 20 Tage hintereinander Berichterstattung über den Schlagerstar Ole Hermann, der in der Dschungelshow nach seiner Kakerlakenprüfung angeblich einen Vergleich zwischen den Krabbelviechern und den jüdischen Siedlern in Palästina gezogen haben soll. Der Sänger wurde sofort aus der Show entfernt. Das Moralministerium plant nun ein Gesetz, nach dem jeder Privatsender seine Inhalte vor der Ausstrahlung staatlich prüfen lassen und eine Sendegenehmigung einholen muss.
»Mann, Mann, Mann, das ist kein richtiger Winter, was?«, sagt mein Fahrgast und kaut zufrieden an seinem Sandwich.
»Nein«, sage ich. »Wenn wenigstens echter Schnee fallen würde.«
Der Gast erwidert: »Ja, genau. Aber es bleibt ja nichts liegen.« »Es bleibt nichts liegen«, sage ich. »Und am Ende hast du überall nur diesen grauen Matsch.« »Ja«, sagt der Fahrgast und kaut.
Mark Knopfler singt: »We are sailing to Philadelphia/ A world away from the coaly Tyne.«
Ich sage: »Und? Gut reingekommen?«
»Oah«, sagt der Fahrgast, den Mund voll mit Salamibrot, mit der Hand abwinkend. »Ganz ehrlich, so schön das auch ist, ich bin froh, dass die Feiertage vorbei sind. Es ist ja im Grunde nur Stress.«
Ich überlege kurz, was er hören will, und sage: »Besonders Weihnachten. Dieser ganze Konsumterror.«
Er steigt darauf ein. »Fürchterlich«, sagt er, »fürch-ter-lich. Mit dem Sinn der Sache hat das alles nichts mehr zu tun.«
»Bei uns in der Famlie schenken wir uns nur noch Kleinigkeiten«, sage ich.
»Wir auch«, sagt er, »wir essen auch kaum noch Fleisch.«
»Kannst du auch nicht mehr«, sage ich, »kannst du alles nicht mehr. Man weiß nicht, was die einem vorsetzen.«
»Ja«, sagt der Gast und knüllt die Folie des Sandwiches zusammen, den letzten Bissen kauend. »Das ist alles der Amerikaner. Der macht vor, wir machen nach. Das war ja immer schon so.«
»Aber Obama ist ein Guter«, sage ich.
»Ja, das auf jeden Fall.« Wir schweigen einen Moment. Ich sage: »Beruflich unterwegs?« »Neuorientierung ...«
»Man muss sehen, wo man bleibt«, sage ich. »Es wird einem nichts geschenkt.«
»Am Ende ist der Ehrliche sowieso immer der Dumme.«
»Da steckt man gar nicht drin, in all den Sachen.«
Es könnte jetzt noch stundenlang so weitergehen. Ich bin gut in Smalltalk, aber leider sind wir schon am Ziel. Ich fahre halb auf den Bürgersteig, stoppe die Uhr und sage: »12,40 Euro.«
»Und das Sandwich?«
»Gehört bei MyTaxi zum Service.«
»Oh, vielen Dank!« Er gibt mir fünfzehn Euro und sagt: »Stimmt so!«
Kaum, dass er den Wagen verlassen hat, knistert es im Lautsprecher, und ich höre Hartmuts Stimme. »Ich bewundere dich«, sagt er, »ich kann das immer noch nicht.«
Hartmut hat die ganze Fahrt über mitgehört. Das ist eine Sicherheitsmaßnahme, die Veith vorgeschlagen hat. Alle Fahrer können die Gespräche in den anderen Fahrzeugen live mitverfolgen, sofern sie es wollen und gerade selbst keinen Fahrgast haben. So hat man immer ein Ohr, wenn schon keine Auge, aufeinander.
»Es ist ganz einfach«, sage ich über Funk. »Du musst immer nur sagen, was die
Weitere Kostenlose Bücher