Feindesland
mehr. Kurz vor dem großen, beruhigend altertümlichen Gebäude des Paul Gerhardt Stifts liegt die Videothek. Ich überlege, kurz in ihr zu verschwinden und die Hüllen von Spielen und Filmen zu lesen, bis draußen mehr Ruhe herrscht, doch erstens herrscht auf der Müllerstraße nie Ruhe, und zweitens steht ein wuchtiger, käseweißer Kerl ohne Haare mit verschränkten Armen in der Tür. Er trägt ein dunkelblaues T-Shirt von Umbro. Seine Panzergliedkette baumelt nicht so locker wie bei den Arabern vor dem Alhambra, sondern quetscht sich in einen Fleischwulst seines Nackens. Vor dem Display mit den Dutzenden bedruckten Schildern der Arzt- und Therapieangebote, die der gigantische Komplex des Paul Gerhardt Stifts anbietet, bleibe ich kurz stehen und frage mich, was Psychotherapie, Akupunktur und Stressabbau wohl kosten. Ein Haufen neben meinem Schuh lenkt mich ab, nur um einen Zentimeter habe ich ihn verfehlt, das kleine Biest versucht gerade, den Rest der Strecke in unauffälligen Millimeter-Rutschern zurückzulegen, um sich doch noch unter meine Sohle zu hangeln. Ich verlasse die Müllerstraße und biege in die Barfusstraße ein. Hier ist es etwas ruhiger. Große, ehrwürdige Eschen und Kastanien rauschen über den breiten Bürgersteigen. Man kann die Vögel besser hören, da man sich von der Verkehrsader Müllerstraße entfernt. Ein hagerer Mann schiebt einen Doppelkinderwagen neben einer Frau daher und raucht dabei. Er hat oben drei und unten fünf Zähne, zahllose Furchen im Gesicht und eine handtellergroße Spinne auf dem Hals. Ihr Körper ist exakt auf den Kehlkopf tätowiert, die Beine ziehen sich über den Hals. Man weiß nicht, ob der Mann die zwei Kinder in dem Doppelbuggy selbst gezeugt hat oder ob er der Vater der Frau ist, die in einer schwarzen, glänzenden Hose von Reebok und einem tiefausgeschnittenen weißen Top neben ihm läuft. Man weiß nur, dass er nicht gesund sein kann, da auch er exakt auf meiner Höhe so zu husten beginnt, als fuhrwerke ein sadistischer Entführer mit einem Schraubenzieher an seinen Mandeln herum. Ich umgehe ihn weitläufig, muss aber schon wieder aufpassen, da sich von einem Balkon ein Schwall Wasser auf die Straße ergießt. Berlin ist ein einziges Ausweichmanöver.
Einige Meter weiter scheinen alle Läden dichtgemacht zu haben. Ein Comicladen, der mit Schlagworten wie »Manga XXL« und »ab 18« warb, nun aber einen grauen Film auf den Scheiben hat.
Das »Legastheniezentrum Berlin«, heute nur eine windschiefe Tür mit angeschimmeltem Lamellenvorhang. Die Bar, vor der ich stehe, in einem Anfall von Kreativität »Moni-Tion« genannt; wahrscheinlich weil hier mal eine Moni die Wirtin gab und man bei ihr ordentlich nachladen konnte. Die Fenster sind mit Metallrollos verrammelt, deren Schlitze mit Dreck, Staub und Spinnenkokons ausgefüllt sind, was darauf schließen lässt, dass sie lange nicht mehr geöffnet wurden. Vor der Tür liegen unaufgesammelte Gratiszeitungen. Dennoch glaube ich von drinnen Stimmen zu hören, russische Stimmen. Kehlig und streitlustig schubsen sie sich Argumente zu, dann höre ich ein Klatschen und einen Stuhl, der auf den Boden fällt. Ich schleiche zur Tür, die aus Holz und Buntglas besteht, rüttele sacht und erfolglos daran, schirme meine Augen mit den Handflächen ab und sehe in den Kneipenraum. Bar, Tische, Stühle aufgebockt, ein umgekippter alter Eimer auf dem Boden. Keine Menschen. Man hört so viele Stimmen in dieser Stadt, dass sie weiterschwätzen, wenn längst keine mehr da sind. Ich brauche Stimmfreiheit. Ich brauche Frieden.
Ich finde einen Hauch davon im Schillerpark. Auf der riesigen Wiese zwitschern die Amseln so entspannt, als wäre ihnen überhaupt nicht klar, wo sie eigentlich leben. Nichts deutet darauf hin, dass es schon so gut wie Winter ist. Ich steige die Treppen eines alten Gemäuers hinauf, das von runden Burgtürmen begrenzt wird und in dessen Mitte, aufgebockt auf ein Podest und gegossen in unverwüstliche Bronze, Friedrich Schiller steht. Die Bastion ist umgeben von Büschen, Wiesen, Wegen und Bänken. Ich atme aus, prüfe den Boden, der erträglich warm und trocken ist, lege mich ins Gras hinter ein schützendes Gestrüpp, so dass trotzdem noch ein wenig Sonne auf mich fällt, und schließe die Augen. Lasse los. Beine, Arsch, Rücken, Arme, Kiefer, Kopf.
Atme aus. Ich stelle mir vor, wie mein Körper in den Boden einsinkt. Stelle mir vor, ich läge in den Dünen oder in einem Wald in Bayern. Öffne die
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