Feindesland
kann ich das Gebäude um 16 Uhr verlassen, während meine Lieben noch mindestens bis 20 Uhr über Hipps neuen Brei für Erwachsene grübeln. Wie lange sie genau bleiben, hängt davon ab, wann der erste Kollege Feierabend macht. Das sei das ungeschriebene Gesetz der Werbebranche, hat mir Gerd in unserem Hausmeisterkeller erklärt: Keiner geht nach Hause, bevor nicht der Erste nach Hause geht. Streng genommen führt das dazu, dass nie jemand geht, was auch häufig genug passiere. »Wie oft klingelte damals um 4 Uhr nachts mein Telefon«, erinnerte sich Gerd, »bis ich den Mädels beigebracht hatte, dass ihre Gesetze nicht für das Facilitymanagement gelten.« Bei >Facilitymanagement< lachte er. Dazu lief Barry White auf seinem alten Kassettenrekorder. 4 Uhr nachts ... Ich mache mir Sorgen um meine Lieben. Ich mache mir Sorgen um uns.
Ich beschließe, mit der U-Bahn nicht direkt bis nach Hause zu fahren, sondern früher auszusteigen und mir anzusehen, wo wir eigentlich leben. Ich verlasse die U-Bahn an der Haltestelle Seestraße und klettere mit den Rentnern, Studenten, Kleinkriminellen und Müttern die dreckige Treppe hinauf aus dem Schacht. Ein Drogeriemarkt neben dem Aufgang verscheuert ein eigentlich teures Duschgel für sensationelle 99 Cent die Flasche. Anti-Hangover mit Rubbelperlen, ein Gel, das wach hält, egal, was passiert. Duschen statt schlafen. Schlafen können wir noch, wenn wir tot sind.
Ich schlurfe zur Kreuzung. Ein gelber Kasten an der Ampel klopft den Blinden den Takt. Vor dem Kinocenter Alhambra lungern junge Leute mit silbernen Panzergliedketten herum. Die Vokuhila-Frisur scheint im arabischen Umfeld wieder zu neuen Ehren zu kommen. Eine digitale Laufschrift kündigt die kommenden Filme an. Vor meinen Füßen dampft ein erst zwei Ampelphasen junger, aus drei Würsten bestehender Hundehaufen. Auf Augenhöhe schlingt sich eine große Hand um den Mast der Ampel, als wolle sie ihn würgen. Sie gehört zu dem Fahrradkurier, den wir vorgestern hinterm Reichstag getroffen haben. Seine straffen Waden bewegen sachte die Pedale hin und zurück, um das Rad im Stand auszubalancieren. Ein kleiner Hautfetzen seiner Akne wackelt, als er mich anspricht: »Wohnt ihr in diesem Viertel?«
Ich zeige nach Nordwesten, über den Kinopalast hinweg. Der Mann folgt meiner Geste mit den Augen und denkt still über unsere Überlebenschancen nach. Ich spüre, dass ihm mehr auf der Zunge liegt, doch er sagt nur: »Passt hier mit den Kneipen auf. Am besten meidet ihr sie komplett.« Er spitzt die Lippen, so dass sich seine Wangenknochen nach oben schieben. »Ja«, bekräftigt er, den Blick geradeaus, »meidet sie.« Die Ampel wird grün, er saust davon.
Ich gehe die Müllerstraße hinab, langsam, ich lasse mir Zeit. Vor dem Eingang des Urnenfriedhofs steht ein Mann und sieht stumm hinein ins Gelände, eine Hand am Gitter. Dann dreht er sich um, geht die Straße hinab an mir vorüber und hustet, ein lautes und unerbittliches Husten. Eine Bugwelle aus Schleim schiebt sich in seinem Inneren über die Bronchien und zieht Tentakeln aus rostigen Ketten hinter sich her. Ich weiche ihm aus.
Auf der anderen Straßenseite grenzen der Internetshop Net-Nex, der Call-Shop Netbox und der Gebrauchtelektronikladen Net-Tek direkt aneinander. In keinem der drei ist Kundschaft zu sehen. Vor dem Yildiz-Cafe plauschen zwei alte Männer, deren Hosenbünde zwei Nummern zu klein sind. Ich weiche einem weiteren Hundehaufen aus, einem Viermaster, noch unberührt. Ein Mann in Jeansjacke hustet knöchern. Ich weiche den Bakterien aus. Zwei Teenagermädchen hüpfen aus einem Shop, der Kunstlederhandtaschen mit Nieten für drei Euro verschleudert. Sie schnattern. Dann niesen sie. Ich beschleunige meinen Schritt. Vor der Post lehnt ein Trinker an der Wand und wippt, auf den Fersen hockend, regelmäßig vor und zurück. Als ich ihn erreiche, kippt er mir vornüber vor die Füße, fängt sich mit einer Hand ab und verflucht sich und die Welt. Ich weiche dem Trinker aus. Gegenüber verlässt ein Mann in grauer Jogginghose aus Baumwolle die Döneria mit zwei randvollgepackten Tüten Hammelfleisch in Brot. Er überquert die Straße und beeilt sich, auf den diesseitigen Bürgersteig zu kommen. Unter der Jogginghose klingeln gut sichtbar seine Glocken. Mit jedem Schritt beulen sie die graue Baumwolle aus. Mein Gott, denke ich, der Mann kauft frisches Fleisch in Brot und trägt keine Unterwäsche. Ich gehe schneller. Der Spaziergang hat wenig Spazierendes
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