Feindesland
auf und öffnet das Fenster. Berliner Straßenlärm dringt hinein, gemischt mit dem zufriedenen Gemurmel vorweihnachtlichen Passantengetümmels. Irgendwo in der Ferne singt George Michael »Last Christmas«.
Schuh setzt sich wieder hinter seinen Schreibtisch und sieht uns an. Dabei zupfen seine Zehen in den schwarzen Frotteesocken große Stücke aus dem tiefen Teppich.
»Ja, bitte, sprechen Sie«, sagt er. »Was brauchen Sie?«
Hartmut schiebt ihm ein Blatt mit Notizen über den Schreibtisch. Schuh liest und nickt wissend. Susanne stellt sich ans offene Fenster, sieht auf die Straße hinab und schnappt nach Luft.
»Die kann ich Ihnen alle einzeln besorgen. Sie können aber auch jede Position auf dieser Liste durch einen einzigen Taubstummen ersetzen.«
»Alle Positionen durch einen einzigen Taubstummen?«
»Das sagte ich eben«, sagt Herr Schuh, rupft noch zwei Büschel aus seinem Teppich, steht dann auf und geht hinüber zu seinem Boxsack. Er beginnt zu boxen. Links, rechts, links. Es sieht hölzern aus. Er spricht unter Hecheln: »Taubstumme sind sehr selten. Die Quote des Moralministeriums erzeugt Knappheit. Davon lebe ich.«
»Warum leben Sie nicht besser?«, rutscht es mir heraus. Ich weiß nicht, wie das passieren konnte. Ich halte mir beide Hände vor den Mund.
Schuh boxt unbeeindruckt weiter. »Reichtum ist die Differenz von Einnahmen und Ausgaben. Ich versuche, diese zu vergrößern.«
Hartmut sieht dem kleinen Mann beim Boxen zu. Links, rechts, links. Er hechelt, er macht Pause, er zupft mit den Füßen Fetzen aus dem Teppich.
»Wollen Sie meinen Taubstummen haben?«
Hartmut sagt: »Kostenpunkt?«
»2500 Euro Vermittlungsgebühr sowie 10 % seines Gehalts monatlich als Provision an mich.« »Das ist happig.«
»Sie können auch die Strafgebühren des Moralministeriums zahlen.«
Susanne klopft mit der Hand auf der Fensterbank herum. Draußen geistert immer noch »Last Christmas« durch die Luft.
»Ich kann Ihnen den Mann sofort zeigen«, sagt Agent Schuh. »Zum Mitnehmen sozusagen. Taubstummer to go.« Agent Schuh lacht und verschluckt sich vor seinem Boxsack. Sein Husten rasselt weit rostiger als die Kette, die sein Übungsgerät hält.
»Sie haben den Mann hier?«
»Er wohnt auch in diesem Hotel.«
Hartmut wippt mit dem Klappstuhl: »Wie könnte mich das wundern?«
Agent Schuh geht zu seinem Telefon und wählt eine interne Hotelnummer.
Hartmut fragt: »Wie ruft man einen Taubstummen an?« »Blinksignale. In der ganzen Suite.«
Wir schweigen zwei Minuten. Herr Schuh boxt, Hartmut und ich sitzen starr auf den Klappstühlen und schielen immer wieder zu den Ordnern, die eigentlich jeden Moment aus dem Regal fallen mussten. Susanne atmet am Fenster. Dann Schritte auf dem Flur. Klopfen. Herr Schuh öffnet und holt einen großen Mann ins Zimmer. Er trägt schulterlanges Haar und hat Wangenknochen, aus denen manche Architekten Torbögen für Stadtwehranlagen machen würden. Seine Augen wirken, als kennten sie nur Schlaf oder genaueste Observation, nichts dazwischen.
»Darf ich vorstellen, das ist Albert Bassermann«, sagt Agent Schuh.
Wir stehen auf, Susanne kommt vom Fenster heran. Herr Bassermann reicht uns die Hand und sagt: »Es ist mir eine Ehre.«
»Waahhh!!!«, schreit Hartmut und zieht seine Hand zurück, als hätte Bassermann einen Elektroschocker in seine Handfläche geklebt. Er hüpft ein paar Meter Richtung Fenster und zeigt auf den markanten Mann. »Ich denke, er ist taubstumm!«
Schuh und Bassermann lachen. »Er ist mein bester Taubstummendarsteller«, sagt Schuh. »Ein großer Mann.«
Herr Bassermann führt es vor, indem er mit einem Mal schweigt und in Zeichensprache mit uns zu kommunizieren versucht oder besser: mit jenem Abklatsch echter Zeichensprache, mit dem der Zeichensprachenkundige mit den Unkundigen zu »sprechen« versuchen. Seine Bewegungen und seine Mimik sind beeindruckend.
»Den nehmen wir«, sagt Susanne, und Herr Bassermann wedelt in einer gespielten Ermahnung mit dem Zeigefinger.
Hartmut kommt wieder näher, behutsam wie ein Naturforscher, und sagt leise: »Sie vermitteln Schauspieler, die Benachteiligte darstellen?«
»So ist es«, sagt Agent Schuh. »Es geht immer nur darum, dass die Menschen beruhigt sind, mein Freund. Wussten Sie, dass es Schriftsteller gibt, die je nach Anfrage Stasi-Akten verfassen? Ohne sie wären viele Bürgerinnen und Bürger enttäuscht, dass es über sie keine Akten zu finden gibt. Oder nur ganz unspektakuläre, über die
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