Feindesland
darauf wie ein Fingerhut wirkt. An dieser Rezeption wollen wir gerade fragen, als Susannes Telefon klingelt. Sie nestelt es aus ihrer Hosentasche und drückt den Empfangsknopf. »Ja?«
»Susanne, mein Schatz, ich hab da noch was, aber nur, wenn du gerade Zeit hast.« Susannes Mutter spricht so laut, dass wir auch ohne Lautsprecherfunktion mithören können. Im Hintergrund klimpert Geschirr und leise Kneipenmusik.
»Mutter, es ist gerade schlecht, wir haben einen Geschäftstermin.«
»Ach so ...«
»Ja ...«
»Dann fasse ich mich ganz kurz. Ganz kurz nur. Also, ich habe mir gedacht, jetzt, wo ein Kind unterwegs ist und du so wenig Zeit hast, da habe ich mir gedacht, ob ich das Ganze nicht auch aus der Ferne mitverfolgen könnte? Ihr seid doch junge Leute, ihr habt doch mit Sicherheit Digitalkameras, die sind ja sogar schon in den meisten Telefonen, wie der Pana mir erzählt hat. Und da habe ich mir gedacht, vielleicht machst du einfach beim nächsten Arztbesuch Fotos von dem Ultraschall und sendest sie mir per Mail.«
»Per Mail? Mutter, du hast nur ein Analogmodem.«
»Nicht mehr, Kind, nicht mehr. Der Pana macht mir morgen oder übermorgen dieses schnelle Internet dran. Wie heißt das noch gleich, dieses NKL, dieses SDS ...«
»Es heißt DSL, Mutter.«
»Ja, das richtet der mir ein. Dann könnt ihr nach Herzenslust Fotos schicken. Vom Ultraschall. Oder auch so ganz allgemein aus Berlin, Berlin ist doch Fotos wert. Mein Gott, wann war ich das letzte Mal in Berlin, das muss 1982 gewesen sein mit dem Onkel Gustav. Der hat uns damals auf die Pfaueninsel ausgeführt. Wart ihr schon auf der Pfaueninsel? Die Gebäude, die da stehen, wirken wie aus Pappmache. Man steht davor, man kann sie schon fast anfassen, und man denkt trotzdem noch, sie wären rein künstlich. Da laufen Pfauen frei rum und diese anderen großen Ziervögel. Wie heißen die noch? Meine Güte, ich kann mir kaum noch was merken. Ich weiß gar nicht mehr, wo mir der Kopf steht. Ich hab ja von dir viel zu wenige Fotos, als du klein warst. Aus dem Krankenhaus nur ein einziges und vom Ultraschall gar keine. Gut, das war damals auch nicht so üblich wie heute. Das muss man sich mal vorstellen, 1979, da war an Digitalfotos nicht im Traum zu denken. Obwohl man natürlich auch weniger geknipst hat, wenn man wusste, dass nur 36 Bilder im Film sind und nicht 6000 oder wie viel da heute so in den Speicher passen. Der Onkel Gustav hat auf der Schwaneninsel um jedes Foto zehn Minuten Aufhebens gemacht. Ist in die Hocke gegangen, hat sich hingelegt, richtig Gymnastik hat der damals gemacht. Wart ihr denn jetzt schon mal auf der Insel oder nicht? Mein Gott Kind, muss man dir denn alles aus der Nase ziehen?«
Susanne öffnet den Mund und schließt ihn wieder. Kleine Wölkchen entsteigen ihren Ohren.
»Kind? Bist du noch dran? Ich rede wieder zu viel, ich weiß.« »Wir machen Ultraschallfotos Mutter, versprochen.« »Und Fotos von Berlin!« »Ja, und Fotos von Berlin.« »Wo seid ihr denn gerade?«
Susanne überlegt einen Moment, aber wenn man nicht vorbereitet ist, kann man seine Mutter nicht belügen. Ich kenne das. Sie sagt: »Im Hotel Belmondo, nahe Bahnhof Zoo.«
Susannes Mutter jauchzt. »Das Belmondo? O mein Gott! Da haben wir damals mit Onkel Gustav gewohnt! Riesige Theke, schwere rote Teppiche? Kind, das musst du mir eben schicken, so als erstes Lebenszeichen. Die Zeit hast du doch, oder?«
»Ich denke, Pana richtet das DSL erst dieser Tage ein.«
»Ein Foto klappt auch so, das weißt du doch. Da warte ich dann gerne auch zehn Minuten, bis der Rechner es runtergeladen hat. Du hast doch bestimmt eine Fotofunktion in deinem Telefon. Das haben doch heutzutage alle jungen Frauen.«
Susanne schiebt die Unterlippe über die Oberlippe. Hartmut kratzt sich am Ohr. Dass Susanne in einem Punkt so ist »wie alle jungen Frauen« gefällt beiden nicht. Sie seufzt. »Also gut, Mutter, ich mache jetzt das Foto und maile es dir rüber.«
»Du bist ganz wunderbar, Kind! Wir sind ja 1982 auch noch über Zoo gefahren. Bei dem neuen Bahnhof müsst ihr aufpassen, dass euch keine Stahlträger auf den Kopf fallen. Da scheint ja häufiger mal was abzubrechen, was man so hört. Ich finde dieses Gebäude ja irgendwie unpersönlich. Da lobe ich mir unseren Kölner Bahnhof, trotz all der Ladenzeilen. Obwohl ich mir da neulich was von dem Inder mitgenommen habe, das war wirklich gut. Das war so ein, wie heißt das noch, so ein ...«
»Mutter!«
»Ja, Entschuldigung, du
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