Feindfahrt
aller
Kraft an seinem schutzlosen Körper zerrte. Als er in fünfzehn
Meter Höhe innehielt und hinabblickte, sah er, daß Richter
unmittelbar hinter ihm war.
Im Salon, wo eine See das Oberlicht zerschlagen
hatte, stand das Wasser mehr als einen Fuß hoch. Schwester Angela
ging von einer Kabine zur anderen und tat ihr möglichstes, um die
ängstlichen Passagiere zu beruhigen.
Als sie zu den Pragers kam, kniete der alte
Konsul an der Koje seiner Frau. Frau Prager lag leichenblaß, mit
geschlossenen Augen und fast ohne Lebenszeichen in den feuchten Kissen.
»Was ist geschehen?« erkundigte sich Prager beunruhigt.
Schwester Angela beachtete ihn vorerst nicht, sondern fühlte
seiner Frau den Puls: Er war noch spürbar, schlug aber sehr
unregelmäßig. Otto Prager zupfte sie am Ärmel.
»Was ist pas siert?«
»Das werde ich gleich feststellen«, antwortete sie ruhig. »Blei ben Sie inzwischen bei Ihrer Frau.«
Sie eilte an Deck und stellte fest, daß die Deutschland m it
vol len Vor- und Achtersegeln, Rahen gebraßt, durch die hochge
hende See nach Norden pflügte. Sturm und Kluth hatten noch immer
das Ruder. Der junge Leutnant rief ihr etwas zu, aber der Wind trug
seine Worte davon. Sie arbeitete sich bis zu den Backbord-Besanwanten
vor, dann blieb sie stehen und blickte, während der Wind an ihrem
schwarzen Habit zerrte, zu den geblähten Segeln empor. Der Himmel
zeigte ein einförmiges Grau, die ganze Welt bestand aus den
Geräuschen des Schiffes, seinem tausendfachen Ächzen und
Stöhnen. Und dann sah sie über sich, in etwa dreißig
Meter Höhe, Berger und Richter auf der schwankenden Gaffel stehen,
wo sie die Leine zu befesti gen suchten.
Dieser Anblick war wohl das Erstaunlichste, was
sie jemals in ihrem Leben gesehen hatte; sie wurde von einer seltsam
freu digen Erregung gepackt. Eine See schlug wie eine grüne Wand
über die Reling herein, warf sie um und trieb sie auf Händen
und Knien quer über das Deck. Sie kauerte sich in den Wind
schatten des Schanzkleids, und als sie versuchte, sich aufzu richten,
landete Berger mit einem Sprung aus den Wanten ne ben ihr, ergriff sie
mit kräftiger Hand unter dem Arm und half ihr hoch.
»Sie sind wohl wahnsinnig!« schrie er sie an. »Können Sie nicht unten bleiben?«
Ehe sie jedoch antworten konnte, zog er sie
übers Deck in seine Kajüte. Erschöpft sank sie in den
Stuhl hinter dem Schreib tisch, während Berger die Tür ins
Schloß drückte und sich mit dem Rücken dagegen lehnte.
»Verdammt, was mache ich bloß mit Ihnen?«
»Es tut mir sehr leid«, sagte sie
leise, »aber unten herrschte Panik, und ich wollte wissen, was
passiert war.«
Er nahm ein Handtuch von seiner Koje und warf es
ihr zu. »Ei ne Leine ist gerissen, ein Segel kam frei. Es
hätte den Besan wie ein Streichholz knicken können, aber
Richter war Gott sei Dank schneller.« Er öffnete den Schrank
und nahm die Flasche heraus. »Einen Schnaps, Schwester?
Natürlich nur aus medizi nischen Gründen. Allerdings kann ich
Ihnen leider nur Rum anbieten.«
»Nein, vielen Dank.« Berger schenkte
sich selbst reichlich ein. Sie trocknete sich das Gesicht und musterte
ihn neugierig . »Das war unglaublich
mutig, was Sie da draußen getan haben, Sie und Herr Richter. So
hoch oben - bei diesem Wetter!« »Halb so schlimm«,
erwiderte er gleichgültig. »Jedenfalls für einen Mann,
der im Sturm bei Kap Hoorn schon so manches Großsegel auf einem
voll getakelten Clipper gerefft hat.« Sie nickte langsam.
»Sagen Sie, glauben Sie immer noch, daß wir Ihnen
Unglück bringen? Daß wir sozusagen die volle Ga rantie
für widrige Winde sind - war das nicht der Ausdruck, den Sie bei
unserer ersten Begegnung gebrauchten? Aber trotz dem haben wir gute
Fahrt gemacht, finden Sie nicht?« »O ja, gute Fahrt machen
wir«, mußte Berger einräumen. »Obwohl die alte
Dame immer klappriger wird.«
»Sie sprechen von der Deutschland, als wäre sie ein Mensch. Als hätte sie ein Eigenleben.«
»Das möchte ich keineswegs von der
Hand weisen. Obwohl Ihre Kirche das vermutlich tun würde. Ein
Schiff hat nicht nur eine Stimme, es hat viele. Man kann hören,
wie sie dort drau ßen einander rufen, vor allem bei Nacht.«
»Der Wind in der Takelage?« In ihrem
Ton lag so etwas wie Spott. »Es gibt andere Erklärungen.
Alte Fahrensleute werden Ihnen erzählen, daß die Geister der
Seeleute , die aus der Take lage gestürzt
und dabei umgekommen sind, auf dem Schiff bleiben.« »Und
daran glauben Sie?«
»Das ist Pflicht in der
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