Feindgebiet
der Zweifler standen. Er wusste, dass der Krieg bald zu Ende war, doch für das Schicksal der Gefangenen auf Koldyeze konnte er die Hand nicht ins Feuer legen; wer wusste schon, wozu die Tahn in ihren letzten verzweifelten Zuckungen fähig waren?
Doch Sten hatte einen Plan. Einen Plan, der mehr bezweckte, als nur ein wenig die Verzweiflung zu lindern. Sein Plan zielte nicht nur darauf ab, so vielen Gefangenen wie möglich das Leben zu retten, sondern obendrein einer Imperialen Invasionsflotte bei einer Schlacht um Heath einen kleinen Vorteil zu verschaffen. Er würde kein fünftes As im Spiel abgeben. Nein, ganz so dramatisch war es nicht. Aber er konnte sehr wohl so etwas wie eine fünfte Bildkarte sein. Und es bestand die schwache Aussicht, dass man damit sogar einen satten Straight vollbekam.
›Du musst aufhören, wie Michele zu denken‹, rief sich Sten ins Gedächtnis zurück. ›Ich meinte St. Clair.‹ Ihre verführerische Gestalt hüpfte wie ein Kobold vor sein geistiges Auge. Weiche Finger. Noch weichere Lippen. Prickelndes Flüstern in seinem Ohr. ›Hör schon auf, Commander. Äh, ich meinte, Admiral. Bleib mit deinen Gedanken bei der Sache. Du darfst nicht vergessen, dass du jetzt ein hochrangiger Offizier bist.‹ Trotzdem musste Admiral Sten ein Grinsen unterdrücken und ein Bein über das andere schlagen. Zum Glück riss ihn Virunga aus seinen Gedankenflügen.
»Wie war … der Name … Micheles – ich meine … St. Clairs Casino noch?«
Sten sah Virunga lange an. Hatte er geraten? Der undurchdringliche Ausdruck des großen Gesichts mit den Käferbrauen gab ihm keinen Hinweis.
»Der K’ton Klub«, sagte Sten. »Warum?«
»Oh … ich wusste nicht … dass die junge Frau … etwas von … Musik versteht.«
»Ehrlich gesagt wusste ich auch nicht, dass Sie etwas davon verstehen«, gab Sten einigermaßen überrascht zurück.
»Ja … Doch … Obwohl ich … nicht länger … daran erfreuen kann.« Er tippte an seine Ohren. »Absolut taub … jetzt. Eine alte … Krankheit … Artillerie. Die Kanonen. Aber als … ich jung war … sehr viel … Musik gehört. Sogar … selbst gespielt.« Er fingerte an einem imaginären Instrument herum. »Ein wenig … Saxophon. Nicht … Synth-Sax sondern … mit Blättchen. Echten Blättchen. Es klang … so … Ah. Kann ich … nicht beschreiben.«
›Noch mehr verdammte Musik‹, dachte Sten. ›Hier in Koldyeze musst etwas in der Luft liegen, etwas Ansteckendes.‹
Gewissermaßen hatte er sogar recht damit. In Koldyeze lag wirklich etwas in der Luft. Seit seinem Gespräch mit Pastour war einiges geschehen. Zunächst einmal hatte sich das Gefängnis rasch mit Gefangenen gefüllt. Gefangene aller Art: hochrangige Offiziere, Diplomaten, sogar einige in Gefangenschaft geratene Provinzgouverneure. Die Tahn legten alle ihre goldenen Eier in diesen großen, von Steinmauern umgebenen Korb.
Und Pastour hielt sich auch an Stens Wunsch, was ihre Behandlung betraf. Mit Ankunft der neuen Gefangenen hatte er ein kleines Kontingent seiner eigenen loyalen Beamten in die Verwaltung infiltriert; ausnahmslos in Schlüsselpositionen. Eine ernsthafte Ermahnung wurde ausgegeben, dass alle übergreifenden Gesetze zum Thema Kriegsgefangene bis auf den letzten Punkt respektiert werden mussten. Der neue Wind wehte so scharf, dass sogar Avrenti und Genrikh – besonders - Genrikh sich nicht mehr zu rühren wagten.
Obendrein hatte sich Pastour ein eigenes Büro auf Koldyeze einrichten lassen und sich angewöhnt, dem Gefängnis hin und wieder einen überraschenden Besuch abzustatten, bei dem die zitternden Gestalten derer, die sich nicht an seine Vorschriften hielten, vor sein Büro zitiert und einzeln hereingerufen wurden.
Zusätzlich fiel es Derzhin aufgrund der fürchterlichen Verluste der Tahn immer schwerer, die Aufseherquote auf einem vernünftigen Level zu halten. Mittlerweile war er darauf angewiesen, die ganz Jungen und die ganz Alten zu rekrutieren. Nachschubprobleme hatten die Moral der Wachmannschaften zusätzlich untergraben. Zu Hause und selbst im Dienst waren ihre Rationen fast unter den Minimallevel gesunken. Die Schatzhöhle voller Nahrungsmittel und anderer Güter, die Cristata und Sten in den Katakomben entdeckt hatten, bewahrte die Gefangenen nicht nur vor einem ähnlichen Schicksal, sondern verschaffte ihnen außerdem genügend Material für großzügige Schmiergelder.
Viele Tahn der unteren Ränge konnten das nicht verstehen und fragten sich ernsthaft, auf
Weitere Kostenlose Bücher