Feindgebiet
unbeliebt. Der plumpe Bursche hatte sich als erster freiwillig als Koch in der Gefangenenkantine gemeldet. Er organisierte das lächerlich unzureichende Sammelsurium, das ihnen zur medizinischen Versorgung bereitstand, zu einer Art Apotheke. Er hatte keine besondere Abneigung gegen Latrinendienst. Jeder kranke Gefangene konnte bei Tag und bei Nacht auf Cristatas Fürsorge und Pflege zählen.
Sten fragte sich, was er jetzt von ihm wollte. Wahrscheinlich hatte er gerade entdeckt, dass ihre Rationen in uniformer Verpackung gereicht wurden und fand das militaristisch. Warum aber störte er dann nicht Colonel Virunga beim Abendessen?
»Ja?«
»Darf ich eintreten?«
Sten winkte ihn herein. Cristata schloss die Tür hinter sich.
»Ich habe erfahren«, sagte Cristata mit leichtem Schaudern, »dass Sie der Verantwortliche für die Fluchtversuche sind.«
Sten murmelte etwas Undeutliches. Konnte Cristata ein Agent der Tahn sein? Unwahrscheinlich.
»Meine Leute haben mich damit beauftragt, ein gewisses Gebiet reservieren zu lassen.«
»Sie wollen fliehen?«
»Warum nicht? Wie soll ich sonst von diesem schrecklichen Ort der Uniformen und Vorschriften entkommen? Wir möchten diesen Ort gern gegen die Freiheit eintauschen. Wir sind zu viert.«
»Und wie?«
»Wir bauen einen Tunnel.«
»Einen Tunnel?« Sten warf einen Blick auf Cristatas schlanke, zerbrechlich wirkende Finger.
Cristata fing seinen Blick auf und zog den festen Arbeitshandschuh vom Handgelenk. Verblüfft sah Sten, wie kräftig diese Gelenke und Finger waren. Da zogen sich die Finger zurück, und große, scharfe Krallen kamen zum Vorschein.
»Im notwendigen alltäglichen Umgang mit der materiellen Welt bin ich Bergbauingenieur«, sagte Cristata.
Sten grinste. »Was die Tahn natürlich nicht wissen.«
»Da sie mich dazu zwingen, ihren lächerlichen Vorschriften zu gehorchen, hielt ich es für keine große Verfehlung, ihnen meinen Mammonberuf und die Grabwerkzeuge, mit denen der Erhabene unsere Rasse ausgestattet hat, zu verschweigen.«
»Und wo genau haben Sie vor auszubrechen?«
»Wir haben im Erdgeschoß des Ostflügels einen Teil des Pflasters entfernt. Von dort aus wollen wir direkt nach draußen graben.«
Sten stellte sich die Klosteranlage im Geist vor. »Das muss aber ein sehr langer Tunnel werden. Die Stelle dürfte am weitesten vom Rand des Steilhangs entfernt liegen.«
»Das haben wir ebenfalls erkannt. Wir gehen jedoch davon aus - und haben eigens um Beistand bei dieser Entscheidungsfindung gebetet –, dass uns unser ungewöhnlicher Ausgangspunkt vor allzu peinlichen Kontrollen bewahrt.«
»Wann soll es soweit sein?«
»Schon bald, glaube ich. Das Graben ging ziemlich leicht, und da wir unter dem Fundament der Kathedrale graben, musste nicht sehr viel abgestützt werden. Momentan müssten wir unterhalb der inneren Mauer sein.«
Sten war wie vom Blitz getroffen. Das bedeutete ein geradezu unglaubliches Tempo. »Das ist verdammt noch mal phantastisch!«
»Ich möchte Sie bitten, in meiner Gegenwart nicht zu fluchen.«
»Ach ja. Entschuldigung. Brauchen Sie Unterstützung?«
»Nein.«
»Keinerlei Hilfe? Angenommen, Sie kommen durch. Was dann? Nehmen Sie es mir nicht übel, aber Sie sehen einem Tahn nicht gerade zum Verwechseln ähnlich.«
»Wir schlagen uns sofort ins Hinterland durch. Dort wollen wir zunächst einen Unterschlupf errichten und dann nach und nach die Bauern der Umgebung auf unsere Anwesenheit aufmerksam machen.«
»Und warum sollten die Sie nicht ausliefern, um die fette Belohnung einzukassieren?«
»Man braucht einen festen Glauben und vor allem Vertrauen«, antwortete Cristata. »Wenn ich mich jetzt wieder meinen eigenen Angelegenheiten widmen dürfte … In unserer Krankenstation sind vier neue Patienten eingetroffen.«
»Selbstverständlich. Lassen Sie uns wissen, ob Sie für Ihre Flucht eine Ablenkungsaktion oder etwas dergleichen benötigen.«
»Das bezweifle ich.«
»Oh. Na ja. Möge Ihr … äh, Ihr Erhabener mit Ihnen sein.«
»Das ist er.«
Cristata schlurfte davon.
Gruppenführer Ibn Bakr war genau der Richtige, dachte Kilgour, insbesondere in seinem gegenwärtigen unterernährten Zustand. Er blickte staunend auf den massigen Körper des Infanteristen und musste den Impuls unterdrücken, die Zähne des Mannes zu untersuchen, gerade so, als wollte er ein Lastpferd kaufen und zu diesem Zweck einen Blick auf seine Hufe werfen, um sicherzugehen, dass es auch das ganze Gewicht eines Elefantensattels
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