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Feine Familie

Feine Familie

Titel: Feine Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Sharpe
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armseligen Gegenwart um jeden Preis zerstören wollten. Von ihrem Platz aus hörte siewie Osbert draußen auf dem Hof zum Brigadegeneral sagte, er solle ihn an die Geschichte von Großtante Georgette und dem japanischen Marineattache erinnern.
    »Ich bin sicher, daß Onkel Oswald den Vertrag für das Schwimmdock auf diesem Weg bekommen hat ...« Seine Stimme entfernte sich. Ähnlich würden sie diesen Schuft von Ronald an jeden erdenklichen Familienskandal erinnern, nur um ihn daran zu hindern, etwas von der Sexartikel- Fabrik zu erfahren. Einen Augenblick lang fühlte sich Emmelia versucht, ihnen allen die Stirn zu bieten, Ronald ein Exemplar dieses ominösen Katalogs seines Sohnes vorzulegen und ihn dann aufzufordern, angesichts des Inhalts die Sache mit der Familiengeschichte nur weiter voranzutreiben. Aber es hatte wenig Sinn, sich den Rest der Familie zu Feinden zu machen. Erschöpft stand sie auf und folgte den anderen nach draußen. »Ich gehe zu Fuß zurück«, entschied sie. »Mir ist nach frischer Luft zumute. Übrigens meine ich, daß Frederick besser nicht in Erscheinung treten sollte.«
    Frederick, der bereits zu derselben Einsicht gelangt war, stand im Arbeiterclub an der Bar und bestellte einen doppelten Whisky.
    Während die anderen in den alten Daimler kletterten, schleppte Emmelia sich betrübt über den Hof zum Fabriktor. Es war lange her, seit sie die kleine Stadt an einem Samstagnachmittag erlebt hatte. Ihr Revier war immer der Garten gewesen, und Buscott hatte sie lediglich als dessen äußerstes Ende und gleichzeitig als den Anfang der großen Welt betrachtet, die sie so lange gemieden hatte. Für ihre gelegentlichen Besuche beim Tierarzt hatte sie den Wagen genommen, und ihre nächtlichen Spaziergänge hatten sie hinaus aufs Land geführt. Da Annie sie über den Klatsch auf dem laufenden hielt, hatte sie sich eingebildet, die Stadt zu kennen, aber heute nachmittag, in dem Bewußtsein, daß ihre Verwandten sie im Stich gelassen hatten, betrachtete sie Buscott mit anderen Augen. Die Häuser waren zwar noch immer dieselben, wirkten freundlich und heimelig, und auch die Geschäfte waren weitgehend so, wie sie sie in Erinnerung hatte, obwohl in den Schaufenstern eine überraschende Vielfalt von Waren angeboten wurde; trotzdem kam es ihr vor, als seien ihr die Straßen irgendwie fremd und sie würde sie nicht wiedererkennen. Als sie vor Cleete, Samenhandlung und Gartengeräte, stehenblieb und das Angebot an Winterzwiebeln betrachtete, erhaschte sie zufällig einen Blick auf ihr Spiegelbild im Fenster und erschrak über das, was sie da sah. Es war ihr, als hätte Ronald sie angeblickt. Allerdings nicht jener Ronald, Lord Petrefact, der inzwischen an den Rollstuhl gefesselt war, sondern Ronald, wie er vor zwanzig Jahren gewesen sein mußte. Emmelia betrachtete ihr Spiegelbild ohne Eitelkeit und zog daraus eine überraschende Erkenntnis: Wenn Ronald kein netter Mensch war – und daran konnte es keinen Zweifel geben –, bestand dann nicht die Möglichkeit, daß sie sich über ihre eigene Nettigkeit Illusionen gemacht hatte?
    Ein paar Sekunden lang stand sie wie angewurzelt vor dem Fenster, während ihre Gedanken nach innen zum tiefsten Kern der Selbsterkenntnis wanderten. Nein, sie war kein netter Mensch. Das Blut dieser verachtenswerten Petrefacts, denen sie in ihrer romantischen Verblendung Tugenden zugeschrieben hatte, die sie nie besessen hatten, floß durch ihre Adern wie – deutlicher sichtbar freilich – durch die ihres Bruders. Sechzig Jahre lang hatte sie ihre wahre Natur verleugnet, um sich ihren Ruf und die Anerkennung der Welt, die sie aus tiefstem Herzen verachtete, zu bewahren. Es kam ihr vor, als sei sie ein Kind geblieben, ängstlich darauf bedacht, ihren Eltern und der Kinderschwester zu gefallen.
    Jetzt, im Alter von sechzig Jahren, erkannte sie die Frau, die sie in Wirklichkeit war. In diesem Augenblick ging hinter ihr eine junge Mutter mit Kinderwagen am Fenster vorbeiverschmolz kurz mit ihrer eigenen, in Tweed gehüllten Gestalt und tauchte auf der anderen Seite wieder auf, als sollte ihr durch dieses Bild die Leere der dazwischenliegenden Jahre noch deutlicher vor Augen geführt werden. Mit einem Zorn, wie sie ihn noch nie zuvor empfunden hatte, wandte sich Emmelia ab. Scheinheiligkeit hatte sie um einen Großteil ihres Lebens betrogen. Aber von jetzt an wollte sie jene Gaben der Bosheit und Gehässigkeit nutzen, die ihr in die Wiege gelegt worden waren.
    Festeren Schrittes

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