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Feine Familie

Feine Familie

Titel: Feine Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Sharpe
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sah sie sich schon mit dem nächsten Beweis dafür konfrontiert, daß die Welt nicht nur kein freundlicher Ort war, wie sie früher geglaubt hatte, sondern ein extrem häßlicher. Lord Petrefact ließ sich bester Laune die Treppen hinunterrollen. »Was für ein exzellenter Ausgang«, sagte er zu Croxley. »Ich kann mich nicht erinnern, wann mir das letzte Mal etwas solchen Spaß gemacht hat. Zwei verdammte Fliegen mit einer Klappe. Yapp bekommt lebenslänglich und Emmelia einen Tritt in den Hintern. Obwohl ich mir nicht vorstellen kann, warum zum Teufel sie diese Szene gemacht hat.«
    »Vielleicht, weil sie wußte, daß Yapp gar nicht fähig ist, einen Mord zu begehen«, sagte Croxley.
    »Völliger Unsinn. Das Schwein hat mich mit diesem verfluchten Bad in Fawcett so gut wie umgebracht. Ich wußte von Anfang an, daß in diesem Kerl Mordgelüste schlummern.«
    »Wir machen alle mal einen Fehler«, sagte Croxley, und aus seinem Gesichtsausdruck las Emmelia, daß er Yapps mißglückten Versuch mit dem Bad als einen solchen wertete. »Der einzige Fehler, den er gemacht hat, ist der, daß er es nicht bei Emmelia versucht hat«, meinte Lord Petrefact erbittert.
    »Also, wenn er auf sie mit einem stumpfen Gegenstand und einem scharfen Messer losgegangen wäre, hätte er meine volle Sympathie.«
    »Sehr wohl«, sagte Croxley und verlieh seinen Gefühlen in dieser Angelegenheit Ausdruck, indem er den Rollstuhl die letzten beiden Stufen allein hinunterholpern ließ. »Zum Teufel mit Ihnen, Croxley«, wetterte der alte Mann. »Wann werden Sie endlich lernen, vorsichtiger zu sein.«
    »Sehr wohl«, sagte Croxley und rollte ihn zum Leichenwagen. In Gedanken registrierte Emmelia, daß Croxley ein Mann mit verborgenen Talenten war, der ihr vielleicht eines Tages von Nutzen sein konnte. Aber im Augenblick machte sie sich mehr Gedanken um Yapp. Und am Abend rief sie Purbeck in seiner Wohnung in London an. »Ich rufe dich nur sehr ungern an«, sagte sie. »Aber ich möchte, daß du dafür sorgst, daß dieser Professor Yapp in die Berufung geht.«
    »Was soll ich tun?« fragte der Richter. Emmelia wiederholte ihr Anliegen.
    »Berufung? Berufung? Ich bin doch kein popeliger Rechtsanwalt, und außerdem hatte der Kerl einen fairen Prozeß und wurde aufgrund des einstimmigen Urteils der Geschworenen für schuldig befunden.«
    »Trotzdem ist er unschuldig.«
    »So ein Quatsch. Und ob er schuldig ist!«
    »Ich sage dir, er ist unschuldig.«
    »Du kannst sagen, was du willst. Das ändert nichts an der Tatsache, daß er vor dem Gesetz schuldig ist.«
    »Und wir alle wissen, wie das Gesetz aussieht«, entgegnete Emmelia. »Ich weiß zufällig, daß er für einen Mord, den er nicht begangen hat, zu lebenslänglicher Haft verurteilt worden ist.«
    »Meine liebe Emmelia«, sagte der Richter, »du magst ja glauben, daß man ihn zu Unrecht verurteilt hat, aber wissen kannst du es nicht. Mal vorausgesetzt, es wäre so – was ich keinen Augenblick lang glaube –, dann können nur Yapp und der wirkliche Mörder, falls es einen gibt, dies wissen. Das ist die simple Wahrheit, und es ist unmöglich, Berufung einzulegen, es sei denn, die Verteidigung kann neue Beweise vorlegen ...« Aber Emmelia hörte ihm längst nicht mehr zu. Sie legte den Hörer auf und blieb in Dunkeln sitzen. Der Gedanke, daß es irgendwo da draußen hinter der Gartenmauer noch ein menschliches Wesen gab, das wußte, wann und warum Willy Coppett den Tod gefunden hatte, ließ ihr keine Ruhe. Bisher war es ihr weder in den Sinn gekommen, über diesen anderen nachzudenken, noch hatte sie seine Existenz so deutlich empfunden. Nie würde sie erfahren, wer dieser Mensch war. Wenn es der Polizei mit ihrem ganzen Aufgebot nicht gelungen war, ihn zu finden, dann war es absurd zu glauben, sie würde das schaffen.
    Von dieser Überlegung ausgehend, wurden ihre Gedanken völlig unerwartet in einen Strudel der Ungewißheit hineingezogen, den sie in dieser Form noch nie zuvor erlebt hatte. Zum erstenmal in ihrem Leben warf sie einen Blick in die Welt jenseits der Grenzen von Reichtum und angestammten Vorrechten, in der ein Teil der Menschen ohne triftigen Grund arm und unschuldig war und der andere ebenso grundlos reich und böse. Das Puzzle ihres Gesellschaftsbildes, eine lange und wohlgeordnete Blumenrabatte, in der die großen Familien Englands die immergrünen Gewächse darstellten, zerfiel in alle Einzelteile und ergab plötzlich keinerlei Sinn mehr. Von wilder Entschlußkraft gepackt, ging

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