Feine Familie
Lauer liegen. Angesichts Mrs. Coppetts gräßlicher Erscheinung verflüchtigten sich Yapps soziales Gewissen und seine Sorgen um die Unterprivilegierten und Minderbemittelten. Die sozio-ökonomischen Entbehrungen, unten denen sie geistig und körperlich leiden mochten, waren nichts im Vergleich zu denen, die zu erleiden er sich in akuter Gefahr sah.
Doch just in dem Augenblick, in dem er seinen Prinzipien untreu wurde, blätterte Mrs. Coppetts Künstlichkeit ab. »Sie mögen mich nicht«, sagte sie kleinlaut, ließ sich kläglich auf einen Plastikstuhl sinken und brach in Tränen aus. »Sie haben Extras verlangt, und wenn ich sie Ihnen gebe, dann wollen Sie sie nicht.«
Dieser Umschwung vom Gespenstischen zum Mitleidheischenden nagelte Yapp an Ort und Stelle fest, und als die Tränen über ihre getünchten Wangen rollten, bedeutete das das Ende seines kurzen Ausflugs in die Realität. Yapp war wieder er selbst, ein gütiger, liebevoller Mensch voller Anteilnahme, für den Selbsterhaltung ein Schimpfwort und Mitgefühl alles war. Und wenn Waiden Yapp je mitgefühlt hatte, dann jetzt. Von einer Sekunde auf die nächste hatte sich Mrs. Coppett von einer Nymphomanin in ein armes, enttäuschtes, leidendes und sexuell ausgebeutetes Menschenkind verwandelt. Mit einem Wort, in eine Prostituierte. »Es tut mir leid«, sagte er, »es tut mir fuchtbar leid. Ich habe nicht begriffen, was Sie meinten. Ich hatte ja keine Ahnung.« Mrs. Coppetts Schluchzer nahmen an Lautstärke zu. Wenn sie nach all der Mühe, die sie sich gegeben hatte, schon keine Extras bekam (und eigentlich wollte sie sie trotz allem, was die Ehedame gesagt hatte, auch gar nicht), dann wollte sie sich wenigstens richtig ausheulen. Und so gab sie sich auf Kosten von Yapps Gefühlen hemmungslos den ihren hin. Und Yapp ging darauf ein. »Meine liebe Mrs. Coppett, Sie dürfen nicht denken, daß ich Sie nicht mag«, sagte er unter völliger Mißachtung der Tatsache, daß Mrs. Coppett überhaupt nicht dachte. »Ich mag Sie sehr gern.«
»Wirklich?« fragte sie, durch dieses Bekenntnis aus ihrem Selbstmitleid herausgerissen.
Waiden Yapp zog sich unklugerweise einen Stuhl heran und setzte sich. »Sie brauchen sich nicht zu schämen. Wenn jemand so lange ausgenutzt worden ist wie Sie, ist es nur natürlich, daß Sie eine sexuelle Orientierung entwickelt haben.«
»Tatsächlich?«
»Aber natürlich. Die Gesellschaft zwingt das Individuum in die anormale Situation eines Gegenstandes oder einer Ware, deren Selbstidentifikation eine Funktion des Geldwertes darstellt.«
»Wirklich?«
»Absolut. Und wenn, mengenmäßig gesprochen, eine Ehe in dem Ausmaß benachteiligt ist wie die Ihre, wird der Warenaspekt zur überwiegenden psychologischen Motivation. Sie sind praktisch dazu gezwungen, sich Ihres Warenwertes im sexuellen Kontext zu vergewissern.«
»Tatsächlich?« sagte Mrs. Coppett, für die seine aus dem Seminar über »Die Objektivierung interpersoneller Beziehungen in einer konsumentenmanipulierten Gesellschaft« stammenden Worte ebenso bedeutungslos waren wie für die überwiegende Mehrzahl seiner Studenten. Yapp nickte. Und um seine Verlegenheit zu verbergen, als ihm plötzlich klar wurde, daß die arme Frau unfähig war, derart grundlegende Konzepte zu begreifen, ergriff er ihre Hand, legte sie in die seine und tätschelte sie. »Ich respektiere Sie. Sie sollen wissen, daß ich für Sie menschlich tiefen Respekt empfinde.« Darauf wußte Mrs. Coppett nichts zu sagen. Was Worte ihr nicht klarmachen konnten, schaffte diese einfache Geste. Er war ein echter Gentleman, und er respektierte sie. Und dieser Respekt bewirkte, daß sie sich schämte. »Was müssen Sie nur von mir denken?« sagte sie und entzog ihm ihre Hand. Dann raffte sie das Nachthemd vor ihrem ausladenden Busen zusammen, stand auf und stürzte aus der Küche.
Seufzend lehnte Yapp sich zurück und betrachtete die traurige Galerie der Freistilringer. So viele einsame, ungebildete Frauen fanden bei diesen monströsen Widerlingen Trost. Guten Gewissens und angewidert von der manipulatorischen Macht der Werbung begab er sich nach oben in sein Zimmer.
Draußen in der Dunkelheit stand Willy unsichtbar und unbeweglich zwischen den Gartenzwergen. Was er gerade mit angesehen und völlig falsch interpretiert hatte, bestärkte ihn nur noch in seinem Entschluß, alles und jedes über Professor Yapp herauszufinden – und nicht nur für Mr. Frederick. Jetzt hegte er einen persönlichen Groll gegen
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