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Feine Familie

Feine Familie

Titel: Feine Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Sharpe
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zurückgekehrt. Obwohl sie bereitwillig zugab, daß zu den althergebrachten Werten der Familie nicht nur eine völlige Unempfindlichkeit gegenüber den Lebensbedingungen der Fabrikarbeiter und der Schwarzen auf ihren Sklavenschiffen gehörte, sondern auch die absolute Bereitschaft, das zu tun, was die Zeit erforderte, auch wenn es sich dabei aus heutiger Sicht um noch so abscheuliche Methoden handelte, mißfiel ihr doch die Entdeckung, daß Frederick auf das Niveau eines Zuhälters herabgesunken war, ganz gewaltig. Abgesehen davon fand sie es ungeheuerlich, daß sie nicht informiert worden war, sondern erst selbst dahinterkommen mußte. Trotz ihrer Abgeschnittenheit vom gesellschaftlichen Leben in Buscott hatte sich Emmelia stets eingebildet, dank Annie als Informationsquelle recht gut über alles Bescheid zu wissen, was sich ringsum abspielte. Doch als sie Annie bei ihrer Rückkehr fragte, ob sie wisse, was in der Fabrik hergestellt werde, beteuerte diese, sie habe keine Ahnung. Und Emmelia glaubte ihr. Annie war seit zweiunddreißig Jahren bei ihr und hatte ihr noch nie etwas verheimlicht. Angesichts dieser Tatsache mußte sie Frederick zugestehen, daß er offenbar mehr Einfluß hatte und größere Diskretion walten ließ, als seine widerlichen Produkte hätten vermuten lassen. Bei nächster Gelegenheit mußte sie ihn unbedingt fragen, wie er das angestellt hatte. Ungleich wichtiger war vorerst, ob ihr niederträchtiger Bruder wußte, was sein Sohn da trieb. Wenn ja und wenn er Professor Yapp geschickt hatte, um dieses Wissen in alle Welt hinausposaunen zu lassen, konnte sie daraus nur schließen, daß Ronald verrückt geworden war. Möglich war das durchaus. Die Veranlagung zum Wahnsinn lag in der Familie und war schon verschiedentlich zum Ausbruch gekommen, wenn auch unterschiedlich intensiv. Sie reichte von der leichten Exzentrizität des Brigadegenerals, die sich in der fixen Idee äußerte, braungetupfte Wüstenrennmäuse züchten zu wollen, bis hin zum glatten Irrsinn eines Cousins zweiten Grades, der, nachdem er in zartem Alter dem unzensierten Einfluß der Eskapaden von Winnie The Pooh ausgesetzt war, in dem festen Glauben aufwuchs, daß er Roo und jede erreichbare Frau Kanga sei. Anläßlich mehrerer Abendgesellschaften hatte er die Familie tödlich blamiert, indem er vollschlanken weiblichen Gästen auf den Schoß sprang, und so mußte man ihn schließlich nach Australien abschieben. Dort hatte er, getreu dem Gesetz seiner Herkunft, ein Vermögen mit Schafen gemacht und sich aufgrund seiner Vorliebe für kleine Känguruhs einen zweifelhaften Ruf erworben.
    Während Emmelia so im Dämmerlicht inmitten der Töpfe und Blumen saß, die Ausdruck ihrer maßvollen Verrücktheit waren, faßte sie einen Entschluß. Es spielte keine Rolle, ob Ronald verrückt war oder nicht. Damit, daß er Professor Yapp nach Buscott geschickt hatte, brachte er den Ruf der Familie ernstlich in Gefahr und mußte folglich umgehend aufgehalten werden. Es genügte auch nicht, daß sie Frederick eingeschärft hatte, sich Yapps zu entledigen. Inzwischen bereute sie diese Anweisung sogar, denn Frederick war ebenso hitzig und unzuverlässig wie sein Vater. Und sie traute ihm ohne weiteres zu, daß er über die Stränge schlug. Abgesehen davon wurde der Versuch, Yapp aus Buscott zu vertreiben, möglicherweise als Bestätigung für Ronalds Verdachtfalls es nur ein solcher war – gewertet, daß es hier etwas zu verheimlichen gab. Und wie sie Ronald kannte, würde er das nächste Mal nicht nur einen sogenannten Familienbiographen schicken, sondern gleich ein halbes Dutzend gräßliche Reporter oder gar ein Fernsehteam. Als der Regen nachließ, verließ Emmelia ihr Gewächshaus und ging ins Haus. Dort setzte sie sich an ihren Schreibtisch und verfaßte zwei Briefe, einen sehr behutsam, den anderen ziemlich spontan, steckte sie in Umschläge und ging dann in die Stiefelkammer.
    »Ich habe zwei Briefe auf das Tablett in der Halle gelegt«, sagte sie zu Annie. »Sorgen Sie dafür, daß der Postbote sie morgen früh mitnimmt und zustellt.«
    »Ja, Mum«, entgegnete Annie und veranlaßte Emmelia damit um ein Haar, ihr zum hunderttausendsten Mal in zweiunddreißig Jahren zu sagen, sie solle sie nicht Mum nennen. Diese Bezeichnung gehörte zu den vielen kleinen Ärgernissen, aus denen sich das tägliche Einerlei zusammensetzte, und obwohl Emmelia sich daran nicht gewöhnen konnte, hätte sie ihr Ausbleiben doch vermißt. Und schließlich war dies die

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