Feine Familie
Schmähungen der letzten Monate hatten die Toleranzgrenze des Sekretärs eindeutig überschritten. Croxley hatte ein Alter erreicht, in dem es ihm weder angemessen noch im mindesten schmeichelhaft erschien, als geiler Hundesohn einer syphilitischen Hure bezeichnet zu werden. Dazu kam, daß er sich angesichts der Beseitigung mehrerer außerordentlich kompetenter Führungskräfte die bange Frage stellen mußte, wie es um seine eigene Zukunft bestellt war, und zu dem Ergebnis gelangte, daß seine Aussichten auf einen angenehmen und sorgenfreien Ruhestand ernsthaft bedroht waren. Um dieser Gefahr entgegenzuwirken, hatte er seinen lebenslangen Vorsatz, nie an der Börse zu spekulieren, gebrochen. Und mit Hilfe seiner Ersparnisse, einer Hypothek auf sein Haus in Pimlico und der Angewohnheit, Lord Petrefacts private Telefongespräche abzuhören, hatte sich Croxley tapfer geschlagen. So tapfer, daß er die berechtigte Hoffnung hegte, in Kürze in der Lage zu sein, dem alten Schwein unverblümt ins Gesicht zu sagen, was er von ihm hielt. Doch obwohl seine eigenen Unternehmungen allmählich zu blühen begannen, bewahrte er sich die Loyalität gegenüber jener Fraktion der Familie Petrefact, die den Peer verabscheute. Ganz besonders verehrte er Miss Emmelia, und er bedauerte es unendlich, daß ihn seine gesellschaftliche Stellung daran gehindert hatte, sie noch glühender zu verehren.
So wanderten Croxleys Gedanken häufig nach Buscott, und als er aus jenem letzten Telefongespräch erfuhr, daß Lord Petrefact Waiden Yapp dorthin geschickt hatte, war er zutiefst beunruhigt. Damit erhielt das Rätsel um Yapps Besuch in Fawcett eine zusätzliche, noch verwirrendere Dimension. Der alte Teufel mußte etwas ungewöhnlich Häßliches gegen die Familie im Schilde führen. Nur was es war, davon hatte Croxley nicht die geringste Ahnung. Yapp in Buscott? Seltsam, sehr seltsam. Und daß die Fabrik mit der Herstellung ethnischer Bekleidung fette Gewinne abwarf, war auch seltsam. Er hatte Miss Emmelia nie als Geschäftsfrau betrachtet, aber bei den Petrefacts mußte man immer auf Überraschungen gefaßt sein. Gerade überlegte er, ob er sich in Buscott zur Ruhe setzen sollte – dort würde er vor dem alten Saukerl Ruhe haben und in Miss Emmelias Nähe sein –, als der Summer ertönte und Lord Petrefact seinen Lunch verlangte.
»Und sorgen Sie dafür, daß in der Ovomaltine ein doppelter Cognac ist«, brüllte er. »Gestern war das verdammte Zeug nicht mal zu riechen.«
»Eine Ovomaltine mit doppeltem Cognac, verstanden«, sagte Croxley und schaltete die Sprechanlage ab, bevor Lord Petrefact ihn anbellen konnte. Als er in die Küche hinunterging, kreisten seine Gedanken um Strychnin.
In der Rabbitry Road 9 saß Yapp im Bett und las widerwillig die Briefe durch, die Lord Petrefact ihm geschickt hatte. Er hatte sich von seinem plötzlichen grippalen Infekt erholt, aber der Inhalt dieser Briefe jagte ihm kalte Schauer über den Rücken. Obwohl seine eigenen proletarischen Neigungen weniger zu verbotenen zwischenmenschlichen Beziehungen wie zwischen Ziegen und Großonkel Ruskin tendierten, mußte er doch zugeben, daß die Enthüllungen ein völlig neues Licht auf die Familie warfen. Am meisten freilich faszinierten ihn die unvoreingenommenen Waffenlieferungen Percival Petrefacts im Ersten Weltkrieg. Das hier waren Unterlagen, die den multinationalen Kapitalismus der Petrefacts vor der ganzen Welt bloßstellen würden. Trotzdem konnte Yapp beim besten Willen nicht begreifen, wieso er diese außerordentliche Korrespondenz erhalten hatte. Aber eines zumindest stand fest: Er mußte die Papiere aus dem Museum in die Hand bekommen. Wenn sie auch nur einen Bruchteil der verheerenden Geständnisse dieser Briefe enthielten, war die Familiengeschichte schon so gut wie geschrieben. Als nächstes mußte er Miss Emmelia Petrefact aufsuchen, um sich von ihr die Erlaubnis zur Einsicht in diese Papiere zu holen. Das war jetzt das wichtigste. Er stieg aus dem Bett und begab sich voller Elan hinüber ins Badezimmer. Doch bis er mit dem Rasieren fertig war, hatte sich seine Entschlossenheit aufgrund der Geräusche, die aus der Küche nach oben drangen, verflüchtigt. Rosie Coppett weinte sich wieder mal kräftig aus, weil Willy noch immer nicht aufgetaucht war. Yapp seufzte. Sollte Willy tatsächlich mit einer anderen Frau durchgebrannt sein, wie Rosie von Tag zu Tag beharrlicher behauptete, dann war seine Moral ebenso restringiert wie sein Wachstum.
Weitere Kostenlose Bücher