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Feine Familie

Feine Familie

Titel: Feine Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Sharpe
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betrachtete beides mit gleichermaßen fassungslosem Unverständnis. Die gewaltige Summe, die er ihr hinterlassen hatte, blieb ihr unverständlich. Schließlich hatte er ihr Angebot von Extras doch zurückgewiesen, und sie hatte für ihn nicht mehr getan als für jeden anderen Untermieter. Und jetzt diese dreihundert Pfund. Wofür? Und warum schrieb er, daß er sich nach angemessener Frist bei ihr melden würde, und unterschrieb seinen Brief mit »Liebe Grüße, Waiden«? Langsam, aber wild entschlossen, eine Antwort zu finden, kramte sie die Teile dieses Puzzles zusammen. Der Professor hatte sich hier eingemietet und mehr bezahlt, als sie verlangt hatte. Er hatte ihre Extras zurückgewiesen, aber gesagt, daß er sie mochte, und er hatte sie getröstet, indem er ihre Hand hielt, und sie hatte gewußt, daß er es ernst meinte; zwei Tage später war Willy ohne Vorwarnung verschwunden; und jetzt war der Professor, der so krank gewesen war, ebenfalls verschwunden und ließ ihr so viel Geld da. Auch den Brief von Miss Petrefact hatte er ungeöffnet liegenlassen. Und außerdem war da noch das Hemd, das sie so gründlich gewaschen hatte, ohne daß es ihr gelungen wäre, den Blutflecken zu entfernen, und das noch immer auf der Wäscheleine hing, weil sie hoffte, die Sonne würde den Flecken ausbleichen. Jetzt war sie allein mit Blondie und Hektor, und die konnten ihr nicht sagen, was sie tun sollte. Sie stand vom Küchentisch auf und brühte sich eingedenk des Ratschlags ihrer Mutter, die Tee für das beste Heilmittel in schlimmen Situationen hielt, eine Kanne starken Tee auf. Danach aß sie mehrere Scheiben Schmalzbrot und überlegte dabei, an wen sie sich um Rat wenden konnte. Die Nachbarn schieden schon mal aus. Willy würde es ihr furchtbar übelnehmen, wenn sie ihnen erzählte, daß er einfach fortgegangen war. Und die Eheberatungsdame kam auch nicht in Frage. Sie hatte ihr geraten, Willy zu verlassen, und jetzt, wo Willy sie verlassen hatte, würde sie sicher sagen, es sei ihr recht geschehen, und das stimmte einfach nicht. Sie war ihm immer eine gute Frau gewesen. Das konnte niemand bestreiten, und außerdem war es einfach nicht richtig, einer Frau zu sagen, sie solle ihren Mann verlassen. Dieser Gedanke brachte sie zum Vikar, aber der war so hochmütig und blieb gar nicht stehen, um nach der Kirche mit ihr ein Schwätzchen zu halten, wie er das mit den feineren und reicheren Damen gerne machte; und außerdem hatte er sie nachsprechen lassen, daß sie einander nie verlassen würden, und jetzt, wo Willy genau das getan hatte, wäre er sicher böse und würde Willy nicht mehr wie bisher im Chor mitsingen lassen. Es gab wirklich niemanden, an den sie sich wenden konnte.
    Am Ende fiel ihr Miss Petrefacts Brief ein, den der Professor gar nicht aufgemacht hatte. Und da Miss Petrefact nicht denken sollte, daß sie ihn Yapp gar nicht gegeben hatte, dachte sie, daß es wohl besser sei, ihn zurückzubringen. Und so kam es, daß sie mit der selbstverständlichen Ehrerbietung gegenüber den Petrefacts den ganzen Papierkram und den Umschlag in ihre Tasche steckte, das Haus verließ, traurig an Willys versammelten Gartenzwergen vorbeiging ohne zu ahnen, daß er inzwischen ebenso starr war wie sie – und in Richtung New House davontrottete.
    Eine halbe Stunde später saß sie in der Küche und erzählte einer interessierten Annie, die nichts Wichtigeres zu tun hatte, als Bohnen zu schnippeln, von all ihren Sorgen. »Und er hat Ihnen einen Scheck über dreihundert Pfund dagelassen? Warum sollte er so etwas tun?« sagte Annie, die die Sache mit dem blutbefleckten Hemd an genau dem Abend, an dem Willy Coppett nicht nach Hause gekommen war, am aufregendsten fand. Rosie kramte in ihrer Tasche herum und zog den Scheck heraus.
    »Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht einmal, wie man ihn auf der Sparkasse einzahlt. Das macht sonst immer Willy.« Annie betrachtete den Scheck und dann den beiliegenden Brief. »Liebe Grüße, Waiden«, las sie laut und warf Rosie einen mißtrauischen Blick zu. »Das hört sich aber gar nicht nach Untermieter an. Das hört sich ganz anders an. Er wird doch nicht versucht haben, mit Ihnen was anzustellen, oder?« Rosie wurde rot und kicherte. »Eigentlich nicht. Nicht so, wie Sie denken. Aber er war sehr nett. Er sagte, daß er mich sehr gern hat und daß er mich als Frau respektiert.« Jetzt schaute Annie noch skeptischer drein. Sie konnte sich nicht erinnern, je einem Mann begegnet zu sein, der gesagt hätte,

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