Feist Raymond - Die Erben von Midkemia 1
die Wohnung. Pasko fragte:
»Soll ich ein Bad einlassen?«
»Nein«, antwortete Tal. »Im Augenblick habe ich auf kaltes Wasser keine Lust. Ich denke, ich lege mich ein wenig
hin und werde in einer Stunde zu Remargas Badehaus gehen
und mich dort für das Abendessen mit Melinda umziehen.
Bitte schick ihr einen kurzen Brief, dass ich mehr als erfreut
bin, heute Abend mit ihr speisen zu dürfen, und teile den
anderen Damen, die mich eingeladen haben, mein Bedauern
mit.«
»Jawohl, Mylord«, erwiderte Pasko. Pasko hatte ihn, seit er
in Salador eingetroffen war, zu Tals Überraschung wie einen
echten Adligen behandelt und erwähnte niemals Talons Vergangenheit und vergaß seine Stellung auch dann nicht, wenn
sie allein waren. Und seit sie in Roldem eingetroffen waren,
hatte sich Tal Hawkins so an die Rolle eines Edelmanns aus
dem Königreich, der auf der Suche nach Abenteuern war,
gewöhnt, dass alles, was vor seiner Ankunft in Salador geschehen war, inzwischen sogar für ihn kaum mehr als eine
trübe Erinnerung darstellte, so als handle es sich um die Vergangenheit eines anderen Mannes.
Während Pasko die Briefe wegbrachte, zog sich Tal aus. Er
legte Umhang, Jacke, Hemd und Stiefel ab, dann warf er sich
aufs Bett. Er war müde von den Übungen, aber er konnte
nicht schlafen, denn er war angespannt wegen des Gerüchts
über seine Einladung in den Palast. Und außerdem sollte das
Turnier in weniger als einem Monat beginnen. Er spürte langsam die wachsende Spannung. Er musste vorsichtig sein; zu
viel davon könnte ihn ernstlich nervös machen, und dann
würde es schwierig sein, sich zu konzentrieren.
Und er wusste auch, dass sich sein Leben nach dem Turnier grundlegend verändern würde, wenn ihm auch noch nicht
klar war, in welche Richtung diese Änderung gehen würde.
Wie Rondar schon festgestellt hatte, zielte all seine Ausbildung darauf ab, ihn glaubwürdig die Rolle eines Edelmanns
aus dem Königreich spielen zu lassen, aber bisher hatte ihm
noch niemand erklärt, wieso diese Rolle so wichtig war.
Seine eigenen Ziele hatten sich nicht verändert. Er würde
jene jagen und vernichten, die seine Verwandten und Freunde
ermordet hatten, aber bis seine derzeitige Rolle gespielt war,
bis Meister Pug und seine Gefährten zu dem Schluss kamen,
dass Talons Pflicht gegenüber dem Konklave erfüllt war,
musste das warten.
Dennoch, in den letzten Monaten hatte eine Sorge immer
mehr an ihm genagt: Was, wenn man ihn seiner Pflichten gegenüber dem Konklave niemals entbinden würde? Was, wenn
er starb, bevor er sein Volk rächen konnte? Über die zweite
Alternative brauchte er nicht weiter nachzudenken, denn
wenn das Schicksal beschloss, den letzten Orosini sterben zu
lassen, bevor er sein Volk gerächt hatte, ließ sich das nicht
ändern. Aber die erste Möglichkeit beunruhigte ihn, denn
welche Pflicht war wichtiger? Eine Lebensschuld war nichts,
was ein Orosini so einfach wegschieben würde, denn das hätte
nicht nur Schande für den Mann, sondern auch für seine Familie und seine Ahnen bedeutet. Aber die Blutrache, die seine
Kultur verlangte, war genauso wichtig. Vielleicht würden die
Götter ja freundlich sein und ihm eine Möglichkeit zeigen,
beiden Verpflichtungen ehrenhaft nachzukommen.
Schließlich drehte er sich auf den Bauch und ermahnte
sich, dass man solche Dinge ohnehin nicht ändern konnte.
Also war es wohl das Beste, sich keine Gedanken zu machen.
Er lag beinahe eine Stunde still da, aber schlafen konnte er
immer noch nicht. Am Ende beschloss er, dass ein längeres
Bad, als er geplant hatte, in seiner derzeitigen Stimmung wohl
am besten helfen würde. Er stand auf und rief nach Pasko,
denn er hatte gehört, dass der Diener von seinen Botengängen
zurückgekehrt war.
Pasko kam herein, und Tal sagte: »Ich gehe zu Remarga.
Wir treffen uns dort, sobald du angemessene Kleidung für das
Essen heute Abend herausgesucht hast. Die Kutsche soll uns
eine Stunde nach Sonnenuntergang bei Remarga abholen.«
»Jawohl, Mylord«, erwiderte Pasko.
Tal zog sich an, verließ die Wohnung und ging rasch durch
die Straßen von Roldem. Er wurde es nie müde, sich zu Fuß
in der Stadt umzusehen. Die kleinen Läden an jeder Straße
gefielen ihm ebenso wie das Gedränge von Menschen aller
Art – jung, alt, Männer, Frauen, Kaufleute, Seeleute, Adlige
und Bürgerliche. Der Geruch der See war überall, und verbunden mit dem Lärm und dem Gewimmel war das berauschend für einen jungen Mann,
Weitere Kostenlose Bücher