Feist Raymond - Die Erben von Midkemia 1
der in der Einsamkeit der Berge auf gewachsen war.
Tal fragte sich, ob das Schicksal ihm je die Gelegenheit
geben würde, an den Ort seiner Kindheit zurückzukehren, und
ob er diese Gelegenheit nutzen würde. Nachdem er kaum einen Augenblick nachgedacht hatte, war er sich dessen vollkommen sicher. Denn ganz gleich, wie erstaunlich die Dinge
waren, die er erreicht hatte, das Wissen, die Erfahrung und der
materielle Wohlstand verblassten im Vergleich zu dem, was
er verloren hatte: ein Zuhause, Familie und ein authentisches
Leben.
Wenn er einen Wunsch frei gehabt hätte, hätte er alles gegeben, um seine Mutter, seinen Vater, seine Schwester und
den Rest des Clans gesund und glücklich zu Hause zu wissen.
Es war ein bitterer Gedanke, dass selbst der mächtigste Magier ihm diesen Wunsch niemals würde erfüllen können.
Er erreichte eine Kreuzung, bog rechts ab und drängte sich
durch die spätnachmittägliche Menschenmenge. Bereits nach
ein paar Sekunden wusste er, dass man ihm folgte. Sein Jägerinstinkt oder seine Intuition, wie Nakor es genannt hatte, ein
lässiger Blick zurück, ein Spiegelbild im Fenster eines Ladens
… irgendetwas hatte darauf aufmerksam gemacht. Jedenfalls
wusste er, dass sich jemand etwa dreißig Fuß hinter ihm befand und ihn vermutlich bereits verfolgte, seit er die Wohnung
verlassen hatte.
Talon hielt inne und blickte in ein Schaufenster, als interessiere er sich für die dort ausgestellten Waren: Die Gestalt,
die er aus dem Augenwinkel sah, wurde deutlicher, als der
Mann stehen blieb und vorgab, nach etwas zu suchen, das er
angeblich vergessen hatte. Er tat so, als wäre er verärgert,
drehte sich um und ging davon, aber nicht, bevor Tal ihn deutlich gesehen hatte. Es war ein kleiner, drahtiger Mann, aber er
bewegte sich schnell und mit einer Gewandtheit, die Tal beunruhigte: Der Mann war gefährlich.
Tal wusste, dass sein Verfolger in der Menge verschwinden würde, also machte er sich nicht die Mühe, ihn zu verfolgen. Das wäre ohnehin sinnlos und würde dem Mann außerdem verraten, dass Tal ihn entdeckt hatte. Dieser Mann oder
ein anderer würde schon bald wieder da sein. Jemand verfolgte Tal, und er musste herausfinden, wer das war und warum er
ihn verfolgte.
Falls es sich um einen Meuchelmörder handelte, der im
Auftrag einer zornigen jungen Frau oder ihres Vaters handelte, dann war das eine Sache, aber wenn es irgendetwas mit
dem Konklave der Schatten zu tun hatte, war das etwas anderes. Er würde vielleicht Pasko ausschicken müssen, um Robert und die anderen zu benachrichtigen.
Talon schlenderte lässig zum Badehaus, nahm aber nicht
den üblichen Weg und blieb mehrere Male stehen, um sich zu
überzeugen, dass man ihm nicht folgte.
Bei Remarga begrüßte ihn einer der vielen Diener, ein
Mann, den er gut kannte. »Guten Tag, Mylord.«
»Guten Tag, Sven«, erwiderte Tal. »Ist Salmina frei?«
»Ich werde nachsehen, Mylord. Wünscht Ihr ihre Dienste?«
»Ja«, sagte Tal und ging in den Umkleideraum.
Sven begleitete ihn, um sich um Tals Kleidung zu kümmern, und versorgte ihn mit allem, was er brauchte. Zunächst
erhielt Tal ein großes Baumwollhandtuch, in das er sich einwickelte. Als er den Umkleideraum verließ, brachte Sven die
getragene Kleidung und das Schwert weg. Tal stellte einen
kleinen Holzhocker neben einen großen Eimer mit warmem
Wasser. Neben dem Eimer lagen ein Stück Duftseife und eine
Bürste. Neben dem Hocker gab es ein Tablett mit kleinen irdenen Tiegeln mit Blumenmuster. Tal griff nach dem Eimer
und goss sich das Wasser über den Kopf, und sobald er ihn
wieder abgesetzt hatte, kam ein Junge mit einem frischen Eimer mit warmem Wasser und nahm den leeren mit.
Zuerst behandelte Tal sein Haar mit einem Duftöl, und dabei fragte er sich nicht zum ersten Mal, was sein Großvater
wohl von all dem gehalten hätte. Der alte Mann hatte stets in
den kältesten Seen und Bächen gebadet und es sehr genossen.
Aber wenn er dann daran dachte, wie sehr sein Großvater Bequemlichkeit geliebt hatte, kam Tal zu dem Schluss, dass der
alte Mann dieses Badehaus zu schätzen gewusst hätte. Nun
erschien eine junge Frau in einem kurzen Leinenhemd, das in
der feuchten Hitze des Badehauses an ihrem Körper klebte.
Dies, so wusste Tal genau, hätte seinem Großvater ganz bestimmt gefallen, denn der alte Mann hatte den Blick für Frauen nie verloren, eine Tatsache, über die er zur Verärgerung
von Tals Großmutter immer wieder Bemerkungen gemacht
hatte.
Tal
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