Feist Raymond - Die Erben von Midkemia 1
liebenswertes Lächeln.
»Alles andere als allein«, sagte Talon.
Sie nickte. »Und dennoch scheinst du immer ein wenig abseits von den anderen zu sein, Talon.«
Talon sah sich um und schwieg.
»Wartest du auf Alysandra?«
Es war, als hätte das Mädchen seine Gedanken gelesen, und
auf dieser Insel war das durchaus möglich. Gabrielles Lächeln
wurde intensiver. »Nein … ja, ich denke schon. Ich habe vor
dem Abendessen mit ihr darüber gesprochen, dass wir uns hier
treffen, und« – er deutete auf die anderen Mädchen – »offenbar
hat sie es auch ein paar andern gegenüber erwähnt.«
Gabrielle sah ihn forschend an, dann sagte sie: »Bist du also auch ihrem Zauber verfallen?«
»Zauber?«, fragte Talon. »Wie meinst du das?«
»Sie ist meine Freundin. Wir teilen ein Zimmer miteinander, und ich habe sie wirklich gern, aber sie ist anders als die
anderen.« Gabrielle starrte ins Feuer, als sähe sie etwas in den
Flammen. »Es ist leicht zu vergessen, dass wir alle anders
sind als die anderen.«
Talon wusste nicht genau, in welche Richtung Gabrielle
das Gespräch steuerte, also schwieg er lieber.
Nach einer langen Pause sagte sie: »Ich habe Visionen.
Manchmal ist es nur ein kurzes Bild, das ich nicht einmal verstehe. Manchmal jedoch sind sie sehr ausführlich, als wäre ich
in einem Zimmer und könnte die Personen dort beobachten
und sie sprechen hören.
Meine Familie hat mich ausgestoßen, als ich noch ein Kind
war. Sie hatten Angst vor mir, weil ich den Tod eines Bauern
vorhergesagt hatte, der in der Nähe wohnte, und die Dorfleute
haben mich als Hexenkind bezeichnet.« Ihr Blick wurde finster. »Ich war vier Jahre alt.«
Als Talon die Hand ausstreckte, um sie zu berühren, wich
sie zurück und zeigte ein gequältes Lächeln. »Ich lasse mich
nicht gerne anfassen.«
»Tut mir Leid«, sagte er und zog die Hand zurück. »Ich
wollte nur – «
»Ich weiß, dass du es gut gemeint hast. Bei all deinem eigenen Schmerz bist du immer noch großzügig und hast ein
gutes Herz. Deshalb sehe ich für dich auch nur noch größeren
Schmerz voraus.«
»Wie meinst du das?«
»Alysandra. Ich liebe sie wie eine Schwester, aber sie ist
gefährlich, Talon. Sie wird heute Abend nicht herkommen.
Aber du wirst sie sicher bald wieder sehen. Und dann wirst du
dich in sie verlieben, und sie wird dir das Herz brechen.«
Bevor er noch weitere Fragen stellen konnte, drehte sie
sich um und ging ins Dunkel davon, und Talon starrte verdutzt hinter ihr her. Er dachte noch einmal darüber nach, was
sie gesagt hatte, und das verwirrte ihn ebenso, wie es ihn zornig machte. Hatte er nicht schon genug Schmerz in seinem
Leben? Er hatte alles verloren, was ihm lieb gewesen war,
war beinahe getötet worden, war an seltsame Orte gebracht
und gebeten worden, Dinge zu lernen, die für ihn immer noch
verstörend und fremd waren.
Und nun teilte ihm dieses Mädchen mit, dass er keine
Wahl hatte, was sein Herz anging? Er wandte den Feiernden
den Rücken zu und kehrte zur Siedlung zurück. Seine Gedanken überschlugen sich, und bevor er es wusste, war er wieder
in seinem Zimmer, lag auf dem Bett und starrte an die Decke.
Ihm fiel auf, dass zwei Gesichter über ihm schwebten und
sich abwechselten: das von Alysandra, deren strahlendes Lächeln Gabrielles Worte Lügen strafte – denn wie konnte jemand, der so sanft und schön war, gefährlich sein? Und dann
erschien Gabrielles Gesicht mit dem gequälten Blick, und er
wusste, dass sie ihm keinen falschen Rat geben würde. Sie
hatte die Gefahr gespürt, und Talon wusste, dass er diese
Warnung nicht missachten durfte.
Er döste, als Rondar und Demetrius von der Versammlung
zurückkehrten, beide ein wenig betrunken. Sie unterhielten
sich. Oder genauer gesagt, dachte Talon, redete Demetrius für
beide.
»Du bist gegangen«, stellte Rondar fest.
»Ja«, sagte Talon. »Vergiss nicht, dass ich morgen einen
langen Tag in der Küche vor mir habe, also tu uns allen einen
Gefallen und sei still.«
Demetrius starrte erst Talon, dann Rondar an und fing an
zu lachen: »Ja, das ist typisch Rondar: reden, reden, reden.«
Rondar zog die Stiefel aus, schnaubte und ließ sich aufs
Bett fallen.
Talon drehte das Gesicht zur Wand und schloss die Augen,
aber es dauerte lange, bis er einschlafen konnte.
Wochen vergingen, und die Ereignisse des Abends, an dem
Gabrielle mit ihm über ihre Vision gesprochen hatte, verblassten bald in Talons Erinnerung. Er stellte fest, dass viele Arbeiten, die
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