Feist Raymond - Die Erben von Midkemia 1
Gestalt rief ihm etwas zu, und er spürte, wie
sich sein Pulsschlag beschleunigte. »Talon!«, rief Alysandra.
» Komm und hilf uns!«
Sie stand oben auf einer Leiter, die an einen Apfelbaum gelehnt war. Die Leiter wurde von einem Jungen namens Jom
gehalten; Talon sah, dass insgesamt zwölf Schüler mit der
Apfelernte beschäftigt waren – sechs Paare.
Er ging zum Fuß der Leiter und rief nach oben: »Was soll
ich denn machen?«
Alysandra beugte sich vor und reichte ihm einen großen
Beutel mit Äpfeln. »Bring das zu den anderen und hol mir
einen neuen Beutel. Dann brauche ich nicht hinunter- und
wieder hinaufzusteigen. «
Talon tat wie geheißen und brachte die Äpfel zu einem
großen Haufen voller Beutel. In der Ferne sah er einen weiteren Schüler, der einen Wagen auf sie zulenkte, also nahm er
an, dass die Ernte beinahe beendet war. Er nahm einen leeren
Beutel mit zur Leiter, stieg ein paar Sprossen hinauf und
reichte ihn Alysandra.
Sie hatte das Haar zurückgebunden und unter eine weite
Mütze gesteckt, was ihren schlanken Hals und die anmutige
Haltung ihrer Schultern betonte. Talon sah, dass ihre Ohren
ein klein wenig abstanden, und fand das hinreißend.
»Warum hilfst du nicht auch den andern?«, schlug sie vor.
»Wir sind fast fertig.«
Talon sprang nach unten und holte die restlichen leeren
Beutel. Er ging von Leiter zu Leiter, tauschte leere Beutel
gegen volle aus, und als der Wagen die Wiese erreichte, hatten die Pflückerinnen ihre Arbeit zu Ende gebracht.
Die Schüler luden ihre Ernte schnell auf den Wagen und
machten sich auf den Heimweg. Alysandra ging neben Talon
her und fragte: »Wo hast du denn die ganze Zeit gesteckt?
Man sieht dich ja kaum mehr.«
»Ich habe gemalt«, sagte Talon. »Meister Maceus hat mich
im Malen unterrichtet.«
»Das ist ja wunderbar!«, rief sie, und ihre Augen schienen
riesig, als sie zu Talon aufblickte. Sie hakte sich bei ihm ein,
und er spürte ihre weiche Brust an seinem Ellbogen. Er konnte einen Hauch von ihrem Duft riechen, der sich mit dem
überwältigenden Geruch der Apfel vermischte. »Was hast du
gemalt?«
»Überwiegend, was der Meister ›Stillleben‹ nennt – Gegenstände, die er auf einem Tisch arrangiert, oder Bilder von
Landschaften. Morgen fange ich mit Porträts an.«
»Wunderbar!«, wiederholte sie. »Wirst du auch ein Porträt
von mir malen?«
Talon geriet ins Stottern. »G-ganz bestimmt, wenn Meister
Maceus das erlaubt.«
Sie stellte sich mit der Anmut einer Tänzerin auf die Zehenspitzen und gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Ich erwarte, dass du dein Versprechen hältst.«
Und damit eilte sie davon, und Talon blieb stehen wie vom
Donner gerührt, während mehrere andere Jungen über seine
offensichtliche Verwirrung lachten.
Talon hob langsam die Hand und berührte die Wange, die
Alysandra geküsst hatte. Lange Zeit konnte er an nichts anderes denken.
Zwölf
Liebe
Talon runzelte die Stirn.
»Nicht bewegen, bitte«, flehte er.
Demetrius und Rondar versuchten beide, die Pose noch einen Augenblick beizubehalten, aber schließlich rief Demetrius: »Ich kann einfach nicht mehr!«
Talon warf verärgert den Pinsel hin. »Also gut. Entspannt
euch einen Moment.«
Rondar kam zu Talon hinter die Staffelei, auf der ein vorbehandeltes Holzbrett stand. Er betrachtete das Porträt der
beiden jungen Männer, das Talon gerade malte, und knurrte:
»Nicht schlecht.«
Demetrius nahm sich einen Apfel von dem kleinen Tisch
an der Tür und biss hinein. Kauend sagte er: »Hast du eigentlich irgendeine Ahnung, wieso sie das machen?«
»Wieso sie was machen?«, fragte Talon.
»Dir das Malen beibringen.«
Talon zuckte die Achseln. »Sie haben mir in den letzten
paar Jahren alle möglichen Dinge beigebracht, und ich verstehe nicht, warum. Aber ich verdanke Robert de Lyes mein Leben, und er hat mich in den Dienst von Meister Pug überstellt,
also tue ich, was sie mir sagen.«
»Bist du denn kein bisschen neugierig?«, wollte Demetrius
wissen.
»Selbstverständlich, aber sie werden mir schon sagen, was
ich wissen muss, wenn ich es wissen muss.«
Rondar setzte sich aufs Bett und erklärte: »Ist doch ganz
klar.«
»Was?«, fragte Demetrius und zog die Brauen hoch.
»Wieso er malt«, erwiderte Rondar.
»Würdest du dann so freundlich sein, es uns zu erläutern?«
Demetrius schaute Talon lächelnd an.
Rondar schüttelte den Kopf, als ginge es um etwas, das eigentlich jeder erkennen müsste, der kein vollkommener Idiot
war. Dann stand er
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