Feist Raymond - Die Erben von Midkemia 4
habe mir schon ein Zimmer im Gasthaus genommen. Wenn wir jetzt hingehen, wird niemand
bemerken, dass du mit mir nach oben kommst.«
Sie hakte sich bei ihm ein. »Als ob ich mich daran stören würde, was die Leute denken. Ich bin keine Jungfrau
mehr, die versucht, sich einen jungen Bewerber einzufangen, Caleb. Ich finde mein Glück, wo ich kann, und
wenn das jemanden stört, ist mir das egal.«
Caleb zog sie an sich und sagte: »Und die, die zählen,
haben nichts dagegen.«
Sie gingen unauffällig am Rand der Menschenmenge
entlang zum Gasthaus.
Als sie miteinander schliefen, hatte es eine Dringlichkeit,
die Caleb noch nie zuvor erlebt hatte, und als sie hinterher im Bett lagen, ihr Kopf an seiner Schulter, fragte er:
»Was beunruhigt dich?«
Marie seufzte. Einer der Gründe, wieso sie sich zueinander hingezogen fühlten, bestand darin, dass sie die
Stimmungen des anderen so genau erkennen konnten.
»Tad hat mich gefragt, ob wir heiraten werden.«
Caleb schwieg einen Augenblick, dann seufzte er tief.
»Wenn ich ein Mann zum Heiraten wäre, Marie, dann
würde ich dich nehmen.«
»Ich weiß«, sagte sie. »Aber wenn du nicht hier
bleibst, mich heiratest und ein richtiger Vater für die
Jungen bist, wirst du sie mitnehmen müssen.«
Caleb rutschte unter ihr hervor und stützte sich auf den
Ellbogen. Er schaute auf sie herab und fragte: »Wie bitte?«
»Du siehst doch, wie es für sie ist, Caleb. Sie haben
hier keine Zukunft. Ich musste den Hof verkaufen, und
dieses Geld wird nicht ewig reichen, selbst wenn ich so
viel im Garten anbaue, wie ich kann. Ich werde zurechtkommen, aber heranwachsende Jungen ernähren … Und
sie haben niemanden, der ihnen die Landwirtschaft beibringt, und keine Gilde, bei der sie ein Handwerk lernen
könnten. Alle anderen Jungen wurden schon vor zwei
Jahren von einem Bauern, Händler, Seemann oder von
einer Gilde als Lehrlinge ausgewählt, aber meine Jungen
haben keine Arbeit. Die Leute mögen sie, und wenn sie
helfen könnten, hätten Tad und Zane jetzt ebenfalls Lehrstellen, aber es gibt hier einfach nicht genug zu tun.
Wenn du sie nicht mitnimmst, werden sie als Faulenzer
oder Schlimmeres enden. Ich würde sie lieber jetzt verlieren, als zusehen zu müssen, wie man sie in ein paar
Jahren als Räuber aufhängt.«
Caleb schwieg längere Zeit. »Was soll ich deiner Ansicht nach mit ihnen anfangen, Marie?«, fragte er schließlich.
»Du bist ein Mann mit einer gewissen Stellung, trotz
deines grob gesponnenen Hemds und deiner Jägerhose,
oder zumindest ist dein Vater es. Du hast die Welt gesehen. Nimm sie als Diener oder als Lehrlinge mit, oder
bring sie nach Krondor, und finde dort Arbeit für sie. Sie
haben keinen Vater, Caleb. Als sie klein waren, war eine
Mutter alles, was sie brauchten: jemand, der ihnen die
Nase putzte und sie in den Arm nahm, wenn sie sich
fürchteten. Wir haben das oft gemacht, nachdem Zanes
Eltern bei dem Trollüberfall getötet wurden. Aber in diesem Alter brauchen sie einen Mann, der ihnen zeigt, was
sie tun sollen und was nicht, der ihnen wenn nötig Vernunft einbläut und der sie lobt, wenn sie etwas gut machen. Wenn du mich also nicht heiraten und hier bleiben
willst, dann nimm sie wenigstens mit.«
Caleb setzte sich aufrecht hin und lehnte sich mit dem
Rücken an die verputzte Wand. »Was du sagst, ist in gewisser Hinsicht vernünftig.«
»Dann wirst du es tun?«
»Ich bin mir nicht sicher, auf was ich mich da einlasse,
aber ja, ich werde sie mitnehmen. Wenn mein Vater nicht
weiß, was er mit ihnen anfangen soll, bringe ich sie nach
Krondor und verschaffe ihnen eine Lehrstelle bei einem
Kaufmann oder einer Gilde.«
»Sie sind jetzt wie Brüder. Es wäre ein Verbrechen,
sie voneinander zu trennen.«
»Ich werde sie beieinander lassen, das verspreche ich.«
Sie schmiegte sich enger an ihn. »Du wirst doch hin
und wieder zurückkommen und mir erzählen, wie es ihnen geht?«
»Ja, Marie«, sagte Caleb. »Ich werde sie auch dazu
bringen, dir oft zu schreiben.«
»Das wäre wunderbar«, flüsterte sie. »Mir hat noch
nie jemand geschrieben.« Sie seufzte. »Wenn ich genauer
darüber nachdenke, hat auch noch nie jemand, den ich
kenne, je einen Brief bekommen.«
»Ich werde dafür sorgen, dass sie schreiben.«
»Du wirst ihnen allerdings erst beibringen müssen,
wie man schreibt.«
»Sie können nicht lesen und schreiben?« Caleb konnte
nicht verbergen, wie sehr ihn das überraschte.
»Wer hätte sie denn unterrichten
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