Feist Raymond - Die Erben von Midkemia 4
sollen?«
»Kannst du denn nicht…«
»Nein, ich habe es nie gelernt«, sagte sie. »Ich kann
ein paar Wörterzeichen erkennen, weil ich sie in den Läden gesehen habe, aber ich brauchte es nie wirklich zu
lernen.«
»Wie wirst du dann lesen können, was sie dir schreiben?«
»Ich werde schon jemanden finden, der mir die Briefe
vorliest; ich muss nur wissen, dass es ihnen gut geht.«
»Du bist eine besondere Frau, Marie«, sagte er.
»Nein, ich bin eine ganz normale Mutter, die sich um
ihre Jungen sorgt.«
Caleb legte sich wieder hin, und Marie lehnte erneut
den Kopf an seine Schulter. Er fragte sich, worauf er sich
da eingelassen hatte.
Zwei
Beratung
Pug hob die Hand.
Er war ein eher kleiner Mann, der nicht älter aussah
als vierzig. Wie immer trug er ein schlichtes schwarzes
Gewand, und seine dunklen Augen erfassten alle, die vor
ihm standen. Es waren diese Augen, die einem einen
Hinweis auf das Ausmaß seiner Macht gaben. Ansonsten
war er äußerlich ein sehr durchschnittlich aussehender
Mann.
Die Höhle an der Nordseite der Insel des Zauberers
war zum traditionellen Treffpunkt der Anführer des
Konklaves geworden. Sie hatte einen engen Eingang mit
einer niedrigen Decke. Die Höhle war trocken, frei von
Moos und Flechten, und hin und wieder wurde sie ausgefegt, um denen, die sich hier trafen, wenigstens ein Mindestmaß an Bequemlichkeit zu bieten. Licht kam von
einem Zauber, den Miranda beigesteuert hatte und der
die Wände selbst leicht schimmern ließ. Außer ein paar
Steinsimsen, auf die man sich setzen konnte, gab es in
der Höhle nur noch einen sehr seltsamen Gegenstand:
eine Büste von Sarig, dem vermeintlichen Gott der Magie, die auf einem Sockel vor einer Wand stand.
Im Lauf der Jahre hatte Pug immer besser verstehen
gelernt, was es bedeutete, wenn Götter »starben«. Sarig
wurde seit den Chaoskriegen für tot gehalten, aber Pug
kam langsam zu dem Schluss, dass er in irgendeiner
Form immer noch existierte und immer noch Einfluss auf
bestimmte Dinge nahm. Die Büste flackerte, weil sich
ihre Züge ununterbrochen veränderten und dabei hin und
wieder auch aussahen wie Pug oder einer von Pugs
Freunden. Dieses wechselnde Gesicht illustrierte die
Theorie, dass alle Magier auf die eine oder andere Weise
Avatare des Gottes waren.
Pug schob seine chronische Neugier über dieses Artefakt beiseite, dann schaute er von einem Anwesenden
zum anderen. Diese Personen waren seine treuesten Berater. Bis auf zwei waren sie alle einmal seine Schüler
gewesen. Die beiden Ausnahmen – Miranda und Nakor –
standen still an einer Seite. Magnus, Pugs und Mirandas
Sohn, der vor kurzem aus Kelewan zurückgekehrt war,
stand hinter seiner Mutter. Pug bemerkte im schwachen
Licht eine gewisse Ähnlichkeit zwischen den beiden und
lächelte. Magnus und Caleb waren eindeutig Brüder, bis
auf ihre Haut und die Haarfarbe – Magnus war hellhäutig
und hatte weißes Haar, während Calebs Haut gebräunt
und sein Haar dunkelbraun war –, aber beide sahen ihren
Eltern nicht besonders ähnlich.
Miranda hatte sich nicht verändert, seit Pug sie vor
über fünfzig Jahren kennen gelernt hatte. In ihrem dunklen Haar gab es nur einen Hauch von Grau, und ihre Augen wechselten die Farbe mit ihrer Stimmung – von
Dunkelgrau über Grün und geflecktes Braungrün bis zu
dunklem Braun. Sie hatte hohe Wangenknochen und einen entschlossenen, fast harten Mund, der hin und wieder
ihre königliche Schönheit ein wenig beeinträchtigte.
Für Pug war sie stets schön, selbst wenn er wütend genug war, dass er sie am liebsten erwürgt hätte. Es waren
ihre Kraft und ihre Leidenschaft, die er liebte. Katala,
seine erste Frau, war in ihrer Jugend ähnlich gewesen.
Pugs Blick traf sich nun mit dem von Miranda, und sie
tauschten wie seit Jahren ihre lautlosen Botschaften aus.
Nakor ließ sich auf einem Felsvorsprung nieder, und
Pug fragte sich wieder einmal, ob er diesen seltsamen
kleinen Mann jemals wirklich verstehen würde. Nakor
weigerte sich, das traditionelle Konzept von Magie zu
akzeptieren, und beharrte stets darauf, dass es nur Tricks
wären, geschickte Manipulation des geheimnisvollen
Stoffs, aus dem letztlich alles bestand. Es gab Augenblicke, in denen der o-beinige kleine Mann Pug mit seinen abstrakten Ideen über das Wesen der Dinge in den
Wahnsinn trieb, aber zu anderen Zeiten konnte Nakor
Einsichten in die Magie liefern, die Pug verblüfften. Der
Isalani war nach Pugs Ansicht wahrscheinlich der
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