Feist, Raymond - Die Erben von Midkemia
Kaiserreich herbeigeführt haben, als man zuvor in Jahrhunderten gesehen hatte.« Er wirkte nachdenklich, als wählte er seine Worte sorgfältig, dann fügte er leise hinzu: »Ich werde Euch jetzt etwas sagen, das niemand außerhalb meines engsten Familienkreises weiß -nicht unsere nächsten Verbündeten, nicht einmal Vettern und Onkel.« Miranda schwieg.
»Als mein Großvater erst kurze Zeit auf dem Thron saß, nachdem sein Vater aus Eurer Welt zurückgekehrt war, nahm die große Lady Mara Kaiser Justin beiseite und verriet ihm ein Geheimnis. Er teilte dieses Geheimnis nur mit seinem Sohn, meinem Vater, und als ich beinahe ein Mann war, teilte mein Vater es mit mir.« Der Kaiser stand auf, und als Miranda sich ebenfalls erheben wollte, bedeutete er ihr, sitzen zu bleiben. »Keine Förmlichkeit, Miranda: Ich werde Euch das bestgehütete Geheimnis in der Geschichte von Tsuranuanni verraten.« Er ging zu einem Kasten, der kunstvoll aus hellem Hartholz gearbeitet war. Er war auf Hochglanz poliert worden, und etwas an ihm erregte nun Mirandas Aufmerksamkeit.
»Er ist magisch«, sagte sie leise.
»Man hat mir gesagt, er würde jeden auf der Stelle töten, der ihn auch nur berührt - mit Ausnahme von mir selbst und meinen Blutsverwandten. Eine gute Seite der absoluten Autorität meiner Position ist, dass nie ein Diener versucht hat, ihn abzustauben.« Er schwieg einen kurzen Moment und fügte dann hinzu: »Andererseits braucht er offenbar auch nie abgestaubt zu werden.«
Langsam streckte er die Hand aus und hielt inne, als seine Finger das Holz beinahe berührten. »Jedes Mal, wenn ich ihn öffne, verspüre ich ein gewisses Maß an Sorge.« Dann griff er nach dem Deckel und nahm ihn ab. Er ließ sich leicht entfernen,
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und der Kaiser legte den Deckel auf die Seite. Dann griff er hinein und holte ein Pergament heraus.
Miranda spürte, wie ihr Magen sich leicht zusammenzog. Sie hatte diese Art Pergament schon öfter gesehen.
Ohne ein Wort reichte der Kaiser ihr die Schriftrolle. Sie rollte sie ab und las.
Dann ließ sie sie fallen und schloss die Augen.
Nach einem Moment des Schweigens sagte Kaiser Sezu: »Offensichtlich versteht Ihr, was das zu bedeuten hat?«
Sie nickte, stand auf und sagte: »Wenn ich darf, Majestät, würde ich mich gern mit ein paar Kollegen auf meiner Heimatwelt besprechen. Ich muss bei anderen weisen Rat suchen, bevor ich das hier interpretieren kann; die wirkliche Bedeutung könnte mir ansonsten vielleicht entgehen.«
»Dieser Kasten befindet sich seit über einem Jahrhundert in der Obhut meiner Familie«, sagte der Kaiser, ignorierte die Formen vollkommen und bückte sich, um das heruntergefallene Pergament aufzuheben. Er rollte es wieder auf und reichte es Miranda. »Ein paar Tage mehr haben bei dem, was wir als Nächstes tun, wenig zu bedeuten. Ganz gleich, was Ihr von dem hier haltet, wir müssen immer noch die Armee mobil machen.«
»Jetzt verstehe ich, warum Ihr die Nationen in den Kriegszustand versetzen wollt.«
Der junge Mann sah traurig aus. »Niemand darf argwöhnen, was wir versuchen werden, bis ich bereit bin, den Nationen den Befehl zum Handeln zu geben. Das ist überaus wichtig. Mein Hoher Rat besteht aus sehr privilegierten Herrschern, die sofort gehorchen werden wie ein guter Tsurani-Soldat… bis man ihnen Zeit zum Denken lässt. In diesem Augenblick würde es zum Bürgerkrieg kommen.«
»Alenca und ein paar andere Erhabene sollten alarmiert werden.«
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»So wenige wie möglich, nur die Vertrauenswürdigsten und niemand sonst, nicht bis zu genau dem Augenblick, wenn ich den Befehl gebe.«
Miranda nickte. »Selbstverständlich, Majestät, aber erst einmal muss ich sofort nach Hause zurückkehren. Wenn das hier ist, was Ihr tun werdet, wird es eine Menge Vorbereitungen geben, mit denen wir beginnen müssen, und wir werden ein paar sehr schwierige Leute überzeugen müssen. Dann werde ich zurückkehren und mit Alenca und den anderen sprechen.«
»Ich werde den Palast informieren, dass man Euch zu jeder Tages- und Nachtzeit zu mir lassen soll, Lady Miranda. Ich werde Euch alles liefern, was ich auf dieser Seite des Spalts leisten kann.«
Miranda sagte: »Lebt wohl, Majestät, und dürfte ich vorschlagen, dass es eins gibt, was wir jetzt gleich tun können: beten.«
Der Kaiser schaute plötzlich einen leeren Sessel an, denn Miranda war verschwunden. Er starrte die vier Wachen im Raum an, aber die rührten sich nicht und hatten wie immer den Blick nach vorn
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