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Feldpostnummer unbekannt

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Titel: Feldpostnummer unbekannt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Will Berthold
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richtete sich wieder auf und schüttelte den Kopf, sah verloren zum Fenster hinaus. Der Kampf machte eine kurze Pause. 24 Grad unter Null lähmten selbst den Sturm satter Angreifer. Nur die russischen MGs ratterten Tag und Nacht am Stadtrand. Vielleicht schossen die Iwans auch nur, um sich die kalten Hände am Lauf zu wärmen.
    Dr. Münemann drehte sich mühselig um, nur mit dem Oberkörper, die Füße konnte er nicht bewegen. Die Zehen waren unter dem Leder abgestorben, die Stiefel von Sterbenden eingeschlossen. Früher war der Raum ein Strumpfstand gewesen, dann ein Ordinationszimmer, jetzt eine Sterbekammer, Karriere à la Stalingrad. Das letzte, schwindende Leben, das sich an die Stiefel des Oberstabsarztes hängte, war keinen Schuß Pulver mehr wert.
    »Schluß jetzt!« brüllte er die Sanis an, wie schon zehnmal an diesem Tag. Er wollte weiterbrüllen, aber er war zu schlapp dazu. Er atmete schwer.
    »Herr Oberstabsarzt«, sagte ein Assistent vorsichtig, »wo sollen wir denn hin mit den Leuten?«
    »Ist mir wurscht«, versetzte Dr. Münemann, der als Student seinen Beruf zu verehren, in der Praxis zu verwirklichen und in Stalingrad zu hassen gelernt hatte. »Ist alles doch bloß Beschäftigungstherapie, was soll's?« Er deutete auf die Verwundeten. »Schafft sie auf den Gang.«
    »Kein Platz.«
    »Dann vors Haus.«
    »Geht nicht«, antwortete der Assistenzarzt. »Sechzig oder mehr hatten sich dort zur Behandlung gestaut … sind fast alle erfroren.«
    »Erfroren?« wiederholte Dr. Münemann und wirkte zerstreut. Er dachte über etwas nach. Er schien ein Selbstgespräch in Gedanken zu führen. Dann nickte er grimmig. Sein Mund wirkte verkrampft.
    »Moment mal …«, sagte er, hob vorsichtig das Knie, stieg über Oberleutnant Thomas Kleebach hinweg, ging auf den Gang, wo die Verwundeten nebeneinander lagen wie in einem riesigen Massengrab, auf Tuchfühlung, lebend noch und doch schon gestorben, ging an ihnen vorbei auf die große Flügeltüre zu, die man verriegelt und gegen die Kälte mit Strohballen abgedichtet hatte. Er ließ sie öffnen und sah auf den Vorplatz, wo die Krankenträger eben die Erfrorenen auf einen Haufen schichteten wie Kommißbrote. 24 Grad, dachte der Oberstabsarzt, keine Medikamente, keine Tabletten, kein Morphium, keine Chance, nichts mehr zu machen …
    Oder vielleicht doch?
    Soweit er noch Personal hatte, und soweit es noch Befehlen gehorchte, trommelte er es zusammen. Die Ärzte hielten ihren Chef im ersten Moment für verrückt und dann für genial, zuerst für einen Mörder, dann für einen Wohltäter.
    »Ich hab's«, sagte er, »sämtliche Türen auf, alle Gänge mit Schwerverwundeten füllen, mit solchen, die keine Chance mehr haben.« Er verzog die Lippen zu bitterem Sarkasmus: als ob die anderen noch eine Chance hätten, dachte er dabei. »Ist das klar?«
    »Jawohl«, erwiderten die Umstehenden mit dumpfen Stimmen, die zu den hohlen Gesichtern paßten.
    »Die meisten erfrieren ohnedies von selbst«, erklärte Dr. Münemann, und er sagte die ungeheuerlichen Worte wie ein Schüler ein auswendig gelerntes Gedicht. »Wenn wir nachhelfen, tun wir den Verwundeten nur einen Gefallen. Daß mir jeder die Klappe hält!«
    Und dann brachte das neue System des Oberstabsarztes Ordnung in die blutende, zuckende, stöhnende, hoffende Masse. Die Türen wurden aufgerissen, die Kälte hereingelassen und auf die Sterbenden angesetzt, die mit steifen Gesichtern noch einmal zu lächeln versuchten, an zu Hause dachten, bevor sie einschliefen; und Dr. Münemann, der die Verantwortung für diese Prozedur übernommen hatte, ging an ihnen vorbei und sagte sich hundertmal, als betete er es: Erfrieren ist der schönste Tod. Man merkt es nicht, man träumt noch, man spürt die Kälte nicht mehr, und dann wird einem warm, und dann ist alles vorbei …
    Die Ärzte beschränkten sich jetzt vorwiegend darauf, festzustellen, wenn ein Patient tot war. Er wurde sofort hinausgetragen und gegen einen anderen ausgewechselt.
    Jetzt war Oberleutnant Thomas Kleebach an der Reihe, der dritte rechts gleich neben der Flügeltüre. Er merkte von alldem nichts, und es konnte höchstens noch drei Stunden dauern, bis auch er den sauber aufgeschichteten Berg hinter dem Haus vergrößerte …
    Auf einmal war es still im Warenhaus. Die Ärzte konnten ihre Hände bewegen und ihre Beine wieder rühren. Der Frost schaffte ihnen Luft. Trotzdem gingen sie lautlos, als fürchteten sie, die letzte Illusion der Männer auf den Gängen

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