Feldpostnummer unbekannt
gab keinen Laut von sich. Das Gebrüll kam von nebenan, wo ein anderer Arzt operierte. Es gab keinen Ort im weiten Umkreis, wo man diese Schreie nicht hörte, keine Türe, die sie stoppte. Das Gebrüll bohrte sich in die Trommelfelle der Verwundeten. Es legte sich auf ihre Körper. Es fraß sich in ihren Knochen fest. Es ließ ihre Gesichter zucken und ihre Hände kalt werden.
»Gleich«, sagte der Stabsarzt nach dem dritten Splitter. Als er den vierten gezogen hatte, merkte er, daß er den fünften herausschneiden mußte.
»Sauerei«, fluchte er und betrachtete den Verwundeten gereizt, weil er nicht in Ohnmacht fiel. Er nahm den Feldwebel beiseite und überreichte ihm den Perkussionshammer.
»Aber nicht zu fest«, sagte er, »sonst schlagen Sie ihm die Schädeldecke ein.«
»Wird gemacht, Herr Stabsarzt«, erwiderte der Feldwebel und trat hinter Thomas Kleebach.
»Messer«, brüllte der Arzt seinen Assistenten an. Er beugte sich über den Leutnant. »Gleich vorbei«, sagte er, und in der nächsten Sekunde schlug der Feldwebel befehlsgemäß mit dem Perkussionshammer zu und verschaffte dem zu Operierenden eine erbarmungslose Narkose.
Thomas Kleebach kam durch, und Achim, sein Bruder, mußte wieder nach vorn. Ein letztes Mal trat Rommel am 21. Januar 1942 zum Angriff an. Er eroberte Bengasi zurück und stand am 7. Februar bei El Gazala. Als der Vormarsch bei Bir Hacheim zuerst stoppte, lag Leutnant Thomas Kleebach bereits im Berliner Heimatlazarett. Die achte britische Armee wurde in zwei Teile auseinandergetrieben, deren einer sich noch nach Tobruk durchschlagen konnte.
Für die Eroberung dieser Stadt wurde Rommel mit der Ernennung zum Feldmarschall honoriert. Einen Tag später stand der Wüstenfuchs wieder an der ägyptischen Grenze, hatte die 8. Armee vernichtend geschlagen und 25.000 Gefangene gemacht. In Ägypten stieß er sodann gegen Sollum vor und nahm das befestigte Marsa Matruk.
Ein paar Tage später zwang ihn die Erschöpfung seiner Truppe zur Rast. Ein britischer Angriff auf El Alamein konnte abgewiesen werden.
Und dann kam plötzlich trotz des glänzenden Sieges das Ende in der Wüste. General Montgomery, der mit überlegenen Kräften zur Operation ›Lightfoot‹ antrat, bekam Hilfe durch die Landung britisch-amerikanischer Truppen in Nordwestafrika. Eisenhower landete mit 500 Schiffen in Marokko und Algerien und zwang das Afrikakorps zu einem Zweifrontenkrieg; es war in der Zange und mußte sozusagen Rücken an Rücken kämpfen. Am 7. Mai gingen Tunis und Biserta verloren, und am 13. Mai kapitulierten die letzten Kräfte des Afrikakorps auf der Kap-Bon-Halbinsel.
Das alles erlebte Achim Kleebach nicht mehr. Für die Rettung von Thomas hatte er das EK II erhalten, aber so sehr er darauf gebrannt hatte, es zu bekommen – jetzt freuten ihn mehr die Lebenszeichen seines Bruders aus dem Berliner Heimatlazarett.
Achims alte Plage mit den Sandflöhen wurde so groß, daß er für das Afrikakorps untauglich wurde, er kam zu dem Ersatztruppenteil nach Sachsen, wurde auf einen KOB-Lehrgang kommandiert und dann mit dem neuaufgestellten Regiment im Osten der 6. Armee zugeteilt, die auf dem stürmischen Vormarsch zur Wolga war, in Stoßrichtung Stalingrad.
Und dann kam der Obergefreite Heinz Böckelmann, Marion Kleebachs Verlobter, nach Berlin. Es war nicht der große Urlaub, von dem er seit einem Jahr geträumt hatte, seine Einheit wurde nur von Osten nach Westen verlegt, und da er in der Reichshauptstadt zu Hause war, erhielt er vom Kompanieführer zwei Tage Fahrtunterbrechung, und diese gezählten achtundvierzig Stunden erschienen ihm wie ein überwältigendes Glück von zeitloser Dauer.
Er begrüßte seine Mutter und hastete dann in die Lietzenburger Straße, gleich um die Ecke. Er drückte den Eltern Marions die Hand, wechselte ein paar Worte mit dem Panzerleutnant Thomas Kleebach, der gerade Genesungsurlaub hatte.
Dann ging er zu Marions Dienststelle, hielt vor einer Telefonzelle und ließ es dann doch sein. Er wollte sie überraschen und genoß im voraus ihr Gesicht. Er war erst einundzwanzig, aber er wußte genau, was er wollte. Er hatte die Einsamkeit in jeder Version gekostet und den Tod in jeder Spielart gesehen, und er war dankbar, davongekommen zu sein. Einmal seiner Mutter wegen, und dann vor allem wegen Marion, mit der er an der Front jede Nacht, jeden Traum, jeden Gedanken, jede Illusion geteilt hatte.
Er lief so schnell, daß ihm ein paar Passanten verwundert nachsahen. Er hastete an
Weitere Kostenlose Bücher