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E-Hafen Pitomnik frei, wo die Hoffnung und der Hunger, der Egoismus und die Brutalität hart aufeinanderknallten. Man kämpfte nicht mehr gegen die Russen, sondern gegeneinander um ein Stück Brot. Die leichter Verwundeten zertrampelten die auf den Bahren liegenden Kameraden, und die deutsche Flak schoß nicht mehr auf sowjetische Angreifer, sondern auf plündernde Landser. Bei 28 Grad minus hatte Hitlers Volksgemeinschaft den Siedepunkt erreicht.
Thomas Kleebach und seine Männer starrten nach oben. Die Ju's kamen heran, ganz tief, wie betrunkene Unglücksraben im Abwehrfeuer der sowjetischen Flak, torkelnd mit Wellblechschwingen, die vor Angst zitterten, und die armen Hunde von unten stierten in die Luft, voller Hass auf die Schlipssoldaten, die am Tag fünfmal das Leben für sie riskierten und die wie die Fliegen fielen, wenn auch satt. Sie glotzten nach oben, und ihren Stumpfsinn belebte die Gier, und ihre tief in den Höhlen liegenden Augen hängten sich an die Tragflächen, schwer wie das Gewicht ihrer Magensäcke, und wären ihre Hände lang genug gewesen, hätten sie die Ju's vom Himmel gerissen und ihnen den Bauch aufgeschlitzt und hätten die Ladung in ihren Magensäften ertränkt, hätten die Knarre weggeworfen, auf die Russen gepfiffen und nur noch gefressen, geschlungen, geschluckt und gewürgt, so lange, bis der Magen platzte, und so hätten sie die Wonne des meisterträumten Heldentods von Stalingrad bis zur Neige ausgeschöpft.
Zwei Ju's stürzten ab, drei kamen durch. Thomas schluckte wie seine Leute. Er sah den Schinken-, Salami-, Konserven-, Kommißbrot- und Schokokola-Kisten nach, die man einfach von oben auf die zerschossene, durchblutete Erde warf, die sie wie ein zu straff gespanntes Tamburin auffing, noch einmal hochwarf, und dann festhielt. Und dann lag der Nachschub zwischen Verstümmelten und Erfrorenen, und die Männer vom Bergungskommando hatten nur einen Blick für die Ware, und wenn sie sich etwas in die eigene Tasche schoben, wurden sie erschossen, gleich auf der Stelle, mindestens zwanzig täglich, im Scheinwerferlicht zur Abschreckung -aber wen sollte der Quatsch noch abschrecken?
Als der Hunger die Disziplin restlos zersetzte, begann die Disziplin, sich des Hungers als Verbündeten zu bedienen: Paulus rief nicht mehr zu den Waffen, sondern zu den Feldküchen. Nur wer kämpfte, bekam einen Schlag dünner Wasserbrühe. Der Verpflegungssatz wechselte täglich: gestern siebenunddreißig Erbsen pro Kopf, heute einundvierzig. Und vier Mann verbrachten einen ganzen Tag bei der Verpflegungsausgabe, um sie einzeln nachzuzählen: So wurde Görings Manna geteilt, gezählt, gewogen und zu leicht befunden. Aber die Männer kämpften nicht mehr um ihr verdrecktes Rattenloch, um die Rückkehr in die Heimat, gegen die Russen oder für Hitler; sie kämpften um etwas, was sich lohnte: um einen Schlag dünner Suppe, auch wenn er nur zur Ruhr führte.
»Herr Leutnant«, wandte sich Unteroffizier Putzke an den Kompanieführer.
Kleebach sah sofort an der verzerrten Miene, daß das Grauen wieder einen Zahn dazugelegt haben mußte, und ging vorsichtshalber mit dem Mann abseits. Wegen seiner rötlichen Haare und seinem spitz zum Kinn zulaufenden, fast dreieckigen Gesicht hieß er der ›Rübenkopf‹, aber keiner fand den Spitznamen noch lustig.
»Was ist?«
»Hier«, erwiderte Unteroffizier Putzke und deutete auf einen verfallenen Keller.
Die beiden gingen die Treppe hinunter, und Thomas sah sich noch einmal um. Der Raum war zweigeteilt und dunkel. Von links kam fahles Licht herein wie geronnene Milch. Über einem Steinhaufen lag eine Eisenschiene; an der Eisenschiene war ein Strick angebunden. An dem Strick hing der lange Maier und war so kalt wie die Aufrufe des Generals Paulus.
»Der erste Selbstmörder meiner Einheit …«, sagte Thomas Kleebach.
»Aber nicht der letzte«, erwiderte der Rübenkopf hämisch.
Thomas nickte. Es gab in Stalingrad Tage, an denen die Selbstmordwelle mehr Opfer forderte als die russischen Geschosse. Er hatte es bisher verhindern können, aber nun war auch in seiner Kompanie der Anfang gemacht.
»Wer hat ihn gefunden?«
»Ich.«
»Wer weiß noch davon?«
»Niemand.«
»Gut«, versetzte der Leutnant, »und Sie halten die Klappe!«
»Warum?« fauchte ihn der Rübenkopf an.
Thomas las die nackte Rebellion in seinem Gesicht und dachte, wie schade es um die Kraftverschwendung sei.
»Er ist doch der einzige«, zischte Unteroffizier Putzke und holte die Worte tief
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