Felicity Gallant und Das Auge des Sturms (German Edition)
Henry hatte sich seinen neuen Schal so um den Kopf gewickelt, dass nur noch seine graublauen Augen zu sehen waren. Sie sahen fast ein bisschen verzweifelt aus. Felicity fühlte sich schuldig, sie wusste, dass er nur ihr zuliebe in dieser Hundekälte ausharrte.
»Wieso gehst du nicht nach Hause? Ich bleibe auch nicht mehr lange«, sagte sie.
»Mir macht das gar nichts aus.« Henry bemühte sich um einen heiteren Ton. »Komm, gehen wir noch ein bisschen spazieren, damit uns warm wird.«
Sie standen auf. Felicity warf einen trüben Blick in Richtung der Stadt, ihre Finger spielten mit der merkwürdigen Holzkugel in ihrer Tasche. Sie hatte Henry nie etwas von ihr und der besonderen Wirkung, die davon ausging, erzählt. Manchmal hatte sie ein schlechtes Gewissen deswegen, aber sie brachte es einfach nicht über sich. Bestimmt würde er sagen, das sei alles nur dummes Zeug, und vielleicht würde er sogar verlangen, dass sie die Kugel zurückgab.
Sie fragte sich, wie sich die Leute von der Gentry wohl in ihrer Situation verhalten hätten. Rafe Gallant wäre bestimmt etwas Besseres eingefallen, als stundenlang draußen in der Eiseskälte herumzuirren. Dann fiel ihr Blick auf ein vertrautes Gebäude. Natürlich, warum war sie nicht schon früher auf die Idee gekommen?
»Die Bibliothek!«, rief sie. »Vielleicht hat die Bibliothek geöffnet. Dorthin können wir gehen.«
Henry sah sie an, als hätte sie gerade vorgeschlagen, in einem Löwenkäfig Zuflucht zu suchen. »Nein«, sagte er, »ich kann es hier ganz gut aushalten.«
Felicity verstand gar nicht, wieso ihr Freund sich so anstellte. »Wovor hast du Angst?«, fragte sie. »Da kann jeder hingehen – es wird keiner zum Lesen gezwungen, falls du das glaubst.« Und weil sie sah, dass er immer noch nicht überzeugt war, spielte sie ihre Trumpfkarte aus: »Auf jeden Fall ist es dort wärmer als hier. Komm schon, einen Versuch ist es wert.«
Felicity drückte gegen die vertraute rote Tür. Der rechte Flügel öffnete sich und ihrem Gesicht ging ein freudiges Lächeln auf.
Henry schlurfte mit Leichenbittermiene hinter ihr her. »Ich möchte noch mal ausdrücklich erklären, dass ich nur unter Protest mitgehe. Ich hab irgendwie kein gutes Gefühl dabei«, murrte er.
»Das sieht man«, antwortete Felicity gelassen.
»Na ja, immerhin ist die Heizung an«, stellte Henry fest.
Offenbar hatte Miss Cameron, die auf einer Bibliotheksleiter in einer Ecke des Raums stand und ein Regal abstaubte, ihre Stimmen gehört. Sie drehte sich um und sah auf die beiden hinunter. »Ah, Felicity«, sagte sie. »Schön, dann seid ihr ja jetzt zu dritt.«
Felicity und Henry sahen einander verdutzt an. Wovon redete Miss Cameron?
Auf der Schwelle zum Lesezimmer blieben sie überrascht stehen. In einem abgewetzten Sessel saß Martha, die Beine übereinandergeschlagen. Um einen fadenscheinigen Teppich herum standen zwei weitere Sessel, die schon bessere Zeiten gesehen hatten, vor dem offenen Kamin. Ein leise knackendes Feuer, von dem ein warmer Schein ausging, brannte darin, und ein schwacher Duft von Rauch hing in der Luft. Felicity wunderte sich: Miss Cameron machte sonst nie Feuer im Lesezimmer.
Sie hatte den Raum nie besonders beachtet, aber jetzt kam er ihr plötzlich ganz heimelig und gemütlich vor. Die burgunderrot gestrichenen Wände und die Holzpaneele schufen eine angenehm warme Atmosphäre, genau das Richtige für so einen eisigen Wintertag. Die Porträts von bedeutenden Bürgern der Stadt lächelten freundlich zu den drei Kindern hinunter.
»Was macht ihr zwei denn hier?«, fragte Martha verblüfft. Dann wurde ihr bewusst, dass das ein bisschen schroff klang, und sie fügte hinzu: »Na ja, ich freue mich wirklich, euch zu sehen – ich bin nur überrascht. Wieso seid ihr nicht zu Hause wie alle anderen Leute?«
Felicity stand am Feuer und genoss die Wärme des Feuers. »Bei mir daheim war Weihnachten nicht gerade gemütlich«, sagte sie.
Martha sah sie mitfühlend an.
»Und bei dir?«, fragte Felicity.
Martha zuckte traurig die Achseln. »Ich habe beschlossen, einen Spaziergang zu machen, als meine Mutter anfing, Teller nach meinem Vater zu schmeißen, weil er mit ihrer Theorie über die Erythrozyten und die Reticulozyten nicht einverstanden war.«
Henry nahm seine Mütze ab und wickelte sich aus seinem Schal. »Hier gefällt’s mir«, sagte er. »Feuer, bequeme Sessel …« Er ging im Raum umher und schaute sich alles an. »Und das gibt’s ja gar nicht, sogar ein
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