Felix Castor (01) - Den Teufel im Blick
Rosen.« Cheryl hatte bei unserem ersten Gespräch das Gleiche verlauten lassen. Aber sie irrten beide. Ich war bereit darauf zu wetten, dass der Geist nicht von Rosen, sondern von Rosa geredet hatte.
Ich ließ meine Optionen Revue passieren. Ich hatte einige Ideen, die ich jetzt im Archiv weiterverfolgen wollte – Ideen im Zusammenhang mit Plastikbeuteln und Flachdächern –, und Rosa war plötzlich jemand, mit dem ich beim nächsten Mal, wenn ich sie ohne Küchenutensil in der Hand erwischte, dringend sprechen musste. Aber von unmittelbarer Priorität waren Nickys Aufzeichnungen – und das Risiko einer unangenehmen Begegnung mit Alice, wenn ich damit ins Bonningtonarchiv zurückkehrte.
Daher nahm ich sie mit in die U-Bahn. Nicht so gut wie Bunhill Fields, aber sie lag um einiges näher und hatte bis zu einem gewissen Grad den gleichen Effekt. Schnell fahrende Vehikel wirkten als Blockade oder Dämpfung für meine psychischen Antennen. Daher hatte für mich der Ort trotz des Maschinenlärms, der Vibrationen und des Schüttelns, der nicht vorhandenen Aircondition, des Geruchs von verzehrten Speisen und der Nähe von Achselhöhlen anderer Leute eine Aura kontemplativer Ruhe, die darüberlag wie die beschützenden Flügel eines Engels. Ich fuhr oft mit der City Line, wenn ich lange und intensiv nachdenken musste.
Ungemütlich saß ich auf einem Platz, dessen eine Plastikarmlehne herausgerissen war und unterschritt daher den persönlichen Mindestabstand eines stämmigen Fahrgasts in einem Scissor-Sisters-T-Shirt, der streng nach Aceton roch, als ich die Notizen aus der Tasche holte und überflog. Es war mehr, als ich zuerst angenommen hatte – etwa zehn Blätter trügerisch dünnen Zwiebelhautpapiers, dicht mit unformatierter Schrift und dem gelegentlichen »Ich-habe-genauso-wenig-Ahnung-wie-du«-Prozentzeichen bedruckt. Gott allein wusste, wo Nicky das Material ausgegraben hatte.
Es gab Datenbankeinträge über ungeklärte Todesfälle, und sie waren schwer entzifferbar, weil die Einträge ohne Überschriften oder Absätze ineinander übergingen. Der erste Eintrag begann:
MARYPAULINEGLEASON28BRAUNBLAU54STUMPFESINSTRUMENTTRAUMA12UNBESTIMMT7SCHAEDELSCHLUESSELBEINLINKEROBERARMKNOCHENPFLASTERVOROLDBARRELHEADKNEIPEAUGENZEUGEAUSSAGE2253JA12MINMEHRFACHSIEHEANHAENGE1 234 567SIEHEANHAENGE910SIEHEANHAENGE1112ENTFERNTGELOESCHTENTFERNT
In diesem makabren, todernsten Tonfall ging es lange weiter. Dann kam ein zweiter Name, Katherine Lyle, gefolgt von einer weiteren Wort- und Zeichenkaskade. Während ich den Text überflog, kam mir in den Sinn, dass ich die Originaldokumente lieber meiden sollte. Die darin verankerten düsteren Emotionen hätten mich wahrscheinlich total lahmgelegt.
In mancher Hinsicht war der Ausdruck völlig unverständlich, in anderer erzählte er viele Varianten einer düsteren und vertrauten Geschichte. Sich meiner Möglichkeiten sehr wohl bewusst, hatte Nicky einigen von den späteren Ausdrucken Material anderer Art hinzugefügt – Downloads von Berichten verschiedener Nachrichtenagenturen oder anderer weniger knapp gehaltener Quellen. Mithilfe dieser Spickzettel konnte ich die Hauptliste ein wenig schneller durcharbeiten.
Vorwiegend ging es darum, die auszusortieren, die von vornherein ausschieden, und danach die, die passend erschienen, aber gefühlsmäßig nicht stimmten. Eindeutige Unfälle mit vielen Zeugen; Morde im häuslichen oder familiären Umfeld, deren Opfer eine viel engere Bindung an ihre eigene Umgebung hatten als an das Bonnington, das trotz allem lediglich ein tiefgekühltes Lager modernden Papiers war; Herzinfarkte und Schlaganfälle, die einen normalerweise ins Jenseits hinübergleiten lassen, ohne allzu viel Aufsehen zu erregen.
Am Ende hatte ich eine kurze Liste von drei Todesfällen, aber ich erkannte, dass ich weitere Informationen brauchte, um entscheiden zu können, welcher wirklich der Archivgeist war, und an diesem Punkt traf mich eine Inspiration, vergleichbar mit dem Gewicht und Schwung eines gut gezielten Ziegelsteins mitten ins Gehirn.
Ich hatte einen Kontakt – einen Kontakt, den ich in dieser Angelegenheit nutzen konnte. Es würde ihm kein bisschen gefallen, aber was uns nicht umbringt, macht uns stark.
Ich schaute hoch zum elektronischen Display an der Wand des U-Bahn-Wagens: NÄCHSTER HALT MOORGATE. Der Zug hatte die Sightseeingtour der Circle Line fast beendet. Nach Moorgate kamen Barbican und dann Farrington, von wo es bis zu Damjohns Club nur ein
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