Felix Castor (01) - Den Teufel im Blick
jetzt an – mit völlig anderen Augen.
Der Müll ließ sich leicht wegräumen, verdächtig leicht, wenn man sich bereits in einer solchen seelischen Verfassung befand. Es waren im Grunde nur ein paar leere Kartons und eine alte Decke – die minimalistischen Signifikanten für ein Bühnenbild von »einem Ort, an dem Obdachlose übernachten«.
Das Holzbrett, das jemand vor die Tür genagelt hatte, besaß dort, wo sich die Schlüssellöcher befanden, ein ausgeschnittenes Rechteck – ein weiteres Zeichen dafür, dass dieser Ort doch nicht so unbenutzt war, wie er aussah. Die beiden Schlösser waren von Falcon und Schlage, und sie ließen die Eingangstür des Archivs erscheinen wie einen Perlenvorhang. Ich kämpfte eine geschlagene halbe Stunde mit dem Schlage-Schloss und war kurz davor zu kapitulieren, als ich das leise Klicken hörte, das anzeigte, dass sich alle Zylinder in der richtigen Position befanden.
Ich drückte gegen die Tür, und sie schwang auf. Dahinter befand sich eine Art Diele, etwa anderthalb Meter im Quadrat mit einer, wie es schien, zusammengefalteten Plane als Fußmatte und einer weiteren Tür, die ebenfalls verschlossen war. Ihr Holz sah weitaus brüchiger aus als die Metallbeschläge, und meine Geduld war mittlerweile erschöpft, daher öffnete ich sie mit einem Fußtritt.
Ich trat in einen vollkommen dunklen Raum, in dem ein gallig saurer, organischer Geruch herrschte. Es war ein Geruch nach Schweiß, Urin, und ich wollte gar nicht wissen, was sonst noch. Ich tastete die nächste Wand nach einem Lichtschalter ab, wurde fündig und betätigte ihn. Eine nackte Hundert-Watt-Glühbirne erhellte mit ihrem grellen, klinischen Licht einen Raum, den Mister Bleaney glatt abgelehnt hätte. Drei Wände waren in einem unheilvollen Krankenhausgrün gestrichen, während die vierte mit einer bedrückend dunklen Holztäfelung bedeckt war, die lediglich durch einige vertikale Latten in einer etwas helleren Farbe aufgelockert wurde. Auf dem Boden lag eine Bahn Linoleum mit Paisley-Muster, die offenbar für einen anderen Raum zugeschnitten war, weil sie nicht bis zu den Wänden reichte. Die Fensterscheibe war heil, aber alles, was man durch sie erkennen konnte, war die Innenseite eines weiteren Sperrholzbretts.
Der Raum selbst war so sparsam eingerichtet, dass man ihn durchaus als leer bezeichnen konnte. Das einzige Möbelstück war eine fleckige grellorange Couch mit dem Charme der 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts. Auf dem Boden vor einer Wand stand eine Reihe von ungefähr einem Dutzend Ein- und Zweiliterflaschen, einige mit klarem Wasser gefüllt, einige leer. Das war alles.
Ich ließ die innere Tür hinter mir zufallen und ging ein paar Schritte in den Raum. Der Schock der Erkenntnis hatte mich schon getroffen, gefolgt von dem Gedanken, dass es eigentlich gar kein Schock war. Dies war der Raum, den ich gesehen hatte, als ich mit dem Geist Zwanzig Fragen gespielt hatte: der Raum, den sie mir bei der Dia-Schau ihrer Erinnerungen gezeigt hatte. Sie hatte sich daran erinnert und ihn mir in jeder Einzelheit übermittelt – außer dass jetzt mehr leere und weniger gefüllte Flaschen vorhanden waren.
Ich durchstöberte den Raum. Das nahm so gut wie keine Zeit in Anspruch, denn es gab nichts, was ich mir hätte anschauen können. Nichts unter der Couch, nichts dahinter. Zwischen Rückenlehne und Sitzpolstern hätte etwas versteckt sein können, aber ich hatte Skrupel, das Ding zu berühren. Es sah aus, als könnten durch den kleinsten Kontakt irgendwelche ansteckenden Krankheiten übertragen werden. Ich schraubte eine der Flaschen auf und roch daran, dann probierte ich vorsichtig. So weit ich es beurteilen konnte, war es reines Wasser.
Was blieb? Über der Tür befand sich ein Regalbrett an der Wand, aber es war abgesehen von einer dicken Staubschicht leer. Die Wandtäfelung konnte eine Vielzahl von Sünden verbergen, daher drückte ich an einigen Stellen dagegen, um zu sehen, wie fest sie an der Wand befestigt war. Beim dritten Versuch gab etwas nach und klapperte leise. Ich sah genauer hin und bemerkte die Tür, die in die Holztäfelung eingesetzt worden war und deren vertikale Umrisse durch zwei Zierleisten verdeckt wurden. Dann entdeckte ich auch das Schlüsselloch.
Dieses Schloss war ein Chubb-Modell aus den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts. Unter den gegebenen Umständen so simpel, dass man die Tür bereits als geöffnet betrachten konnte.
Hinter der Tür führten Stufen abwärts. Es war die
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