Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Felix Castor (01) - Den Teufel im Blick

Felix Castor (01) - Den Teufel im Blick

Titel: Felix Castor (01) - Den Teufel im Blick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mike Carey
Vom Netzwerk:
Mädchen vom Lande leichter einzufangen waren als Mädchen aus der Großstadt. Daher hatte er sich diesmal weiter nach Osten vorgewagt als je zuvor, bis nach Wladiwostok, Heimathafen der sibirischen Flotte und Standort der Far Eastern Federal University. Er hatte gelesen, die Wirtschaft dort stehe vor dem Zusammenbruch, und erwartete daher, dort genügend Not und Verzweiflung anzutreffen, die ihm sein Vorhaben erleichtern würden.
    Aber Wladiwostok war furchteinflößend. Sobald er die üblichen Touristenrouten verließ, war er von Gangstern und Zuhältern umringt, die ihre Arbeit weitaus härter und ernsthafter erledigten, als er es jemals getan hatte. Es war ein Ort, an dem er, wenn er sich nicht vorsah, vom Jäger zum Gejagten werden konnte.
    Rich überlebte. Er fühlte sich verletzlich und schutzlos, aber er wollte nicht mit leeren Händen zurückkehren. Damjohn bezahlte nur ungern Reisen, die ihm keinen greifbaren Gewinn brachten. Am Ende fuhr Rich mit dem Bus in die viel kleinere Stadt Oktjabrskij, und da war alles völlig anders. Dort fand er das Sibirien, das er erwartet hatte. Mit Brettern vernagelte Läden und, wohin man schaute, Spuren des Elends und der Not der Menschen, die sich aus diesem Jammertal nicht hatten herauskaufen oder -kämpfen oder sich aus eigener Kraft hatten herausarbeiten können. Sicher, ein Tourist passte hier genauso wenig hin wie ein rot-weiß gestreiftes Nilpferd, aber die meisten Leute, die er zu sehen bekam, waren eher geprügelte Hunde als Haie. Dies war ein Ort, an dem er, wie sein Gefühl ihm sagte, halbwegs sicher operieren konnte.
    Es war in Oktjabrskij gewesen, wo er Snezhna kennengelernt hatte. Nicht in einem Club oder in einer Gaststätte, sondern hinter der Theke eines rund um die Uhr geöffneten Lebensmittelladens. Sie war sehr attraktiv und bewegte sich mit einer Art naiver Grazie. Ganz klar der Typ Mädchen, der die Laufkundschaft in eins von Damjohns Apartments locken würde.
    Aber zugleich hatte Rich das ungute Gefühl, dass sie nicht der Typ Frau war, der auf sein übliches Phrasendreschen hereinfiel. Sie beantwortete seine beiläufigen Fragen mit ausdrucksloser Ernsthaftigkeit, lachte über keines seiner Witzchen und verpackte Nahrungsmittel mit einer schwerfälligen Sorgfalt, die signalisierte, dass sie nicht von der Möglichkeit träumte, jemals etwas anderes zu tun. Rich begann dennoch mit der Überredungsphase, weil er mittlerweile gelernt hatte, dass man keine Gelegenheit ungenutzt verstreichen lassen sollte. Jemand wie Snezhna sei viel zu schade für Sibirien, sagte er, sie werde dort verkümmern. Im Westen könnte sie ein Leben voller Luxus führen, hätte alles, was ihr Herz begehre, und bräuchte sich nie mehr Geldsorgen zu machen.
    Überraschenderweise ging sie so begeistert auf seine Vorschläge ein, dass er sich gar nicht so sehr anstrengen musste. Sie stellte ihm alle möglichen Fragen über die Arbeit, den Ort und wie man dort hingelangte. Sie besaß keinen Reisepass, aber wenn sie einen beschaffen könnte, würde Rich ihr dann Ratschläge geben können, wie sie am besten nach England komme? Vielleicht würde sie sich erst einmal umschauen und sich erst später entschließen, ob sie dortbleiben wolle oder nicht.
    Statt Snezhna an die Angel zu bekommen und an der langen Leine zu führen, fühlte Rich sich von ihrem Schwung mitgerissen und musste sie etwas bremsen. Er konnte sie nicht nach Stockholm schicken, ehe er Dieter ihr Kommen per E-Mail angekündigt hatte, und für sie einen Pass zu beschaffen würde sicher einige Tage dauern, auch wenn dafür Kanäle benutzt wurden, die durch regelmäßige Schmiergelder offen blieben. Aber eins nach dem anderen. Er verabredete sich am nächsten Morgen mit ihr im Passamt, um alles in die Wege zu leiten. Danach habe sie alle Zeit der Welt, um ihre eigenen Angelegenheiten zu regeln, während die Bürokraten mit ihrer sattsam bekannten Schwerfälligkeit ihren Antrag bearbeiteten.
    Dann war Snezhna mit Rosa im Schlepptau im Passamt erschienen. Als er die beiden zusammen sah – Snezhna hatte den Arm schützend um die Schultern ihrer jüngeren Schwester gelegt und funkelte jeden Mann wütend an, der auch nur einen kurzen Blick in Rosas Richtung warf – verstand Rich sofort. Mochten Snezhnas Ehrgeiz und Fantasie, was ihr eigenes Schicksal betraf, ihre Grenzen haben, so wollte sie für Rosa alles, was die Welt zu bieten hatte.
    Er konnte auch verstehen, weshalb sie die Rolle der Beschützerin übernommen hatte.

Weitere Kostenlose Bücher