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Felix Castor (01) - Den Teufel im Blick

Felix Castor (01) - Den Teufel im Blick

Titel: Felix Castor (01) - Den Teufel im Blick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mike Carey
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Nacht. »Musik« war vielleicht zu schmeichelhaft. Es war eher ein jaulender Laut wie von einer sterbenden Katze. Es war eine Flöte, die ein Geräusch drei Oktaven über dem mittleren C erzeugte. Scrub erstarrte, während ein Ausdruck des Befremdens und Erschreckens über sein Gesicht glitt. Den Fuß immer noch auf meiner Brust drehte er sich um und suchte nach der Quelle dieses Lauts. Aber wir waren allein auf dem Laufgang – kein Flötenspieler war zu sehen.
    Die Flöte produzierte drei undeutliche Misstöne, von einem schrillen Kreischen bis hinunter zu einem hohlen Bass. Es war keine Melodie zu erkennen, nur eine schrille Tonfolge, die sich zu einem kaum erkennbaren Muster zusammenfügte. Sie wechselte willkürlich von Dur zu Moll und wieder zurück, von einem blökenden Ton zum nächsten, und störte die Nacht mit ihrem Missklang.
    Sie entlockte Scrub ein erschrecktes protestierendes Grunzen wie von einem angestochenen Schwein. Er drehte den Kopf hin und her und versuchte, die Klangquelle zu orten. Offensichtlich kamen die Töne von einem Punkt hinter uns, aus den Schatten auf dem Laufgang, gut zehn Meter entfernt, zwischen der Mercedes und ihrem nächsten Nachbarn.
    Die Lautstärke des Klangs nahm wieder zu, und Scrub brüllte vor Schmerz und Zorn. Er nahm den Fuß von meiner Brust, höchstwahrscheinlich gerade noch rechtzeitig, ehe meine Rippen nachgaben und mein Brustkorb völlig eingedrückt wurde, und rannte zurück zum Hafeneingang. Damit bewegte er sich auf die Musik zu, was ihm genauso viel Mühe zu bereiten schien wie das Schwimmen gegen eine Gezeitenströmung. Er wurde langsamer, stolperte, und für einen Augenblick sah es so aus, als würde er ins Wasser kippen. Dann entdeckte er vor sich etwas auf den Holzbohlen des Laufgangs und zwang sich, darauf zuzugehen.
    Ich richtete mich auf, machte einen gierigen Atemzug und spürte Rippen, die sich anfühlten, als wären sie geborsten und zu nadelspitzen Splittern zertrümmert worden. Ich beobachtete, wie Scrub versuchte, sich zu bücken und das Ding aufzuheben, das er auf dem Laufgang gefunden hatte, und stattdessen fiel. Ich sah, wie er über die Planken kroch und mit dem Walkman in seiner riesigen Pranke hochkam. Er starrte das Tonaufnahmegerät an, als hätte er Mühe, seine Augen darauf einzustellen. Dann brüllte er wie ein Ochse und warf das Ding von sich. Es prallte gegen den Rumpf der Baroness Thatcher , ehe es in den Fluten des Jachthafens versank und mitten in einem schrillen Ton verstummte.
    Loup-garous unterschieden sich von gewöhnlichen Geistern. Sie waren schwieriger oder einfacher, je nachdem, was man mit ihnen zu tun beabsichtigte. Einerseits hatte sich der eindringende Geist tief ins Fleisch eingegraben, es umgeformt und wie einen Kokon um sich gelegt. Daher konnte es verdammt schwierig sein, einen kompletten Exorzismus vorzunehmen. Aber (und das war ein großes Aber) die Kehrseite dieses Arrangements war die, dass das Fleisch sich an seine frühere Form erinnerte. Der einfachste Weg bestand darin, dafür zu sorgen, das Wirt und Parasit sich voneinander trennten – eine Störung zu erzeugen, sodass das von dem übersinnlichen Schmarotzer übernommene Fleisch wieder die Gestalt annahm, die es gehabt hatte, ehe der Geist eindrang und es umgestaltete.
    Ich war einigermaßen überzeugt gewesen, dass der Nachmittag, den ich damit verbracht hatte, diese Melodie zu komponieren und mit dem Walkman aufzunehmen, vergeudete Zeit gewesen war. Aber ich wusste, dass ich Scrub nie in einem direkten Zweikampf hätte besiegen können, ganz gleich, mit wie vielen Tiefschlägen ich ihn erwischte. Daher musste ich mir, falls ich jemals gegen ihn bestehen wollte, einen um einiges unfaireren Vorteil verschaffen.
    Der große Mann kam wieder schwankend auf die Füße, aber es kostete ihn unendliche Mühe. Sein Kopf zuckte herum, und er musterte mich über zehn Meter Laufgang hinweg mit einem Ausdruck von wahnsinngespeisten glühenden Hasses.
    »Castor«, grollte er. »Dafür bringe ich Sie um. Das verspreche ich Ihnen. Wenn ich …«
    Er versteifte sich, und ein Beben lief durch seinen Körper wie eine Welle durch Wasser. Er starrte auf seine Arme und ächzte. Sie wanden sich, nicht wie Gliedmaßen, sondern wie Schlangen, wie Hundewelpen in einem Sack. Er versuchte einen Schritt in meine Richtung, schaffte es, ihn auszuführen, begann einen zweiten. Weiter kam er nicht.
    »Wenn ich – zurückkomme –« Scrub hatte Mühe, die Worte zu formen und

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