Felix Castor (01) - Den Teufel im Blick
könne etwas, mit dem man Tage oder Wochen zugebracht habe, platzen. In diesem Fall habe er einen Stapel Karten und Pläne der versteckten Wasserstraßen Londons für eine Gruppe Vorschulkinder zusammengestellt, die am darauffolgenden Montag das Archiv besuchen sollten.
»Das ist Ihr gewöhnliches Tagesgeschäft, richtig?«, fragte ich nur der Vollständigkeit halber.
»Oh ja! Wir sind eine öffentliche Einrichtung, vergessen Sie das nicht. Kaum Laufkundschaft, aber eins unserer wesentlichen Ziele ist eine hohe Nutzerfrequenz. Wir müssen sicherstellen, dass dieses Jahr mindestens zehntausend Personen das Archiv benutzen. Nächstes Jahr sind es zwölftausend und so weiter. Wir haben zwei Klassenräume und eine frei zugängliche Bibliothek oben im dritten Stock.«
»Aber der Unterricht ist Jon Tilers Job und nicht Ihrer, oder? Ich meine, er ist der Lehrer.«
»Der Übersetzungsbeauftragte. Ja, das ist richtig – ich würde diese Arbeit auf keinen Fall machen wollen. Aber die Flüsse Londons sind eins meiner Spezialgebiete, daher habe ich einen Großteil der Vorbereitungen übernommen, und da war eine spezielle Karte, auf der alles drauf war, alle ursprünglichen Nebenflüsse, eingezeichnet auf einem Stadtplan. Nur hatte sie einen Riss in der Mitte, an einer der Falten, und ich wusste, was geschehen würde, wenn Jon sie in diesem Zustand benutzte. Daher entschied ich, sie in Ordnung zu bringen. Ich wurde abgelenkt. Cheryl war auch oben und erledigte vor dem Wochenende noch einige Dinge aus ihrem Bereich. Alice ging mit Jon den Plan für die nächste Woche durch, und Faz – ich meine, Farhat, sie ist eine Teilzeitkraft – saß in der Ecke und schrieb etwas für Jon. Ein Arbeitsblatt oder so etwas, und ich war mehr oder weniger fertig. Ich meine, ich hatte alles gefunden, was ich gesucht hatte, und musste nur noch einen Flicken in die Karte einsetzen. Es klingt kompliziert, aber so gehen wir mit Schäden und Rissen um, es sei denn, das Original ist zu wertvoll, um daran herumzudoktern. Wir kleben neues Material ein – ungebleichtes Japanpapier mit pH-neutralem Klebstoff – und dunkeln es dann bis zur richtigen Farbe nach, damit es nicht aussieht wie hingeschissen. Ich war dabei, den Flicken zuzuschneiden. Eigentlich sollen wir reißen, nicht schneiden, aber ich schneide und franse die Ränder hinterher mit einer Scherenklinge aus. Wie dem auch sei, das wollte ich tun.«
Rich nahm einen tiefen Schluck aus der Lucozade-Flasche und wischte sich den Mund ab.
»Dann flackerte die Beleuchtung. Nur für eine Sekunde. Alice sagte etwas über teilweisen Stromausfall, und Jon machte einen Scherz – ich weiß nicht mehr welchen, aber ziemlich krass, und dann geschah es wieder, und plötzlich war es wie in einer Disco, wenn sie die Stroboskoplampen einschalten. Ich stand auf – ich wollte zum Schalter gehen, das Licht ein paarmal an- und ausknipsen und sehen, ob das alles wieder in Ordnung bringt. Aber ich kam nicht bis dorthin. Etwas stieß mich zurück auf den Stuhl. Ein lauter Knall ertönte – als wäre etwas Schweres vor mir auf dem Tisch gelandet –, und der Boden zitterte. Die Karte, die Farbtöpfe, alles, was ich benutzt hatte, flog in die Luft. Die Lichter erloschen und flammten einen Augenblick später wieder auf, und die Schere …« Er hob die Hand, um den Verband auf seiner Wange zu berühren. »… sie drehte sich irgendwie in meiner Hand. Ich konnte es mit ansehen, aber nicht verhindern. Es tat auch verdammt weh. Ich schaffte es, den Finger aus dem Griff zu ziehen, aber mein Daumen klemmte noch fest und wurde weiter umgedreht. Ich hatte eine Scheißangst, Kumpel, das gebe ich offen zu. Ich schrie etwas. ›Scheiße!‹ oder so etwas. ›Seht mal, was hier geschieht!‹ Cheryl kam angerannt, um mir zu helfen, aber die Scherenklingen zerrten mich an meinem eigenen Daumen herum – quer durch den Raum. Ich muss ausgesehen haben wie Peter Sellers in diesem Film, als er sich bemüht, keinen deutschen Gruß auszuführen. Die Schere hackte nach meinem Körper und meinem Gesicht, und ich konnte mich nur schützen, indem ich mich mitdrehte und mich immer wieder duckte. Ich knallte gegen Cheryl, und sie ging zu Boden. Weiß der Himmel, wo Jon und Alice waren. Farhat schrie in einem fort, was eine verdammte Hilfe war. Dann kam ich auf die Idee, die Hand gegen die Tischkante zu schlagen. Ich tat es etwa fünf- oder sechsmal, aber am Ende bekam ich den Daumen frei, und die Schere fiel zu Boden. Cheryl dachte klarer
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