Felix Castor (01) - Den Teufel im Blick
verraten, tu ich’s auch nicht.«
Er ging und schloss die Tür. »Ein netter Kerl«, dachte ich. Ein geborener Gentleman. Andererseits hatte der Geist versucht, ihm das Haar zehn Zentimeter zu tief zu scheiteln. Was ihn betraf, war ich die Siebte Kavallerie.
Ich stellte die Flasche auf den Tischrand, griff in den Karton und holte eine Handvoll dessen heraus, was sich darin befand. Es war das, wonach es schon von der Tür her ausgesehen hatte: Geburtstagskarten in altertümlichem Design. Die aufgedruckten Grüße waren in Englisch, aber die Schrift im Inneren war Kyrillisch, wovon ich keine Ahnung hatte.
Ich schloss die Augen und lauschte den Karten in meinen Händen, aber sie sprachen nicht. Nach gut einer Minute öffnete ich die Augen wieder und musterte die Kartons genauer. Es waren etwa drei Dutzend, und jeder konnte bis zu zweihundert Dokumente enthalten. Es wären natürlich nicht nur Karten. Briefe und Fotografien konnten viel kleiner sein, daher war die Stückzahl der Objekte sicher viel höher.
Selbst wenn der Geist an irgendetwas in diesem Raum verankert sein sollte, waren die Chancen, dieses Etwas bei einem schnellen Überblick wie diesem zu finden, gleich null, sodass dies keine brauchbare Option war. Aber wenn der Geist selbst sich in diesem Augenblick hier oder irgendwo in der Nähe aufhielt, müsste ich eigentlich etwas von ihm spüren.
Ich setzte mich auf den Fußboden und zog die Tin Whistle aus dem Gürtel. Ohne Eile verdrängte ich alle anderen Gedanken aus meinem Kopf und spielte »The Bonny Swans« von Anfang bis Ende. Das war kein Zaubertrick. Ich versuchte, den Geist zu fangen oder aus der Deckung zu locken. Dies war eines der Lieder, die mir halfen, mich zu konzentrieren. Meine Gedanken flossen aus mir heraus, hängten sich an die Musik und vollführten einen kleinen Rundflug durch den Raum, nahmen Strukturen und Laute und Gerüche auf und stocherten mit ihren winzigen, verantwortungslosen Fingern in jedem Winkel und jeder Ritze herum.
Da war etwas, das sich bewegte, mehr oder weniger außerhalb der Grenzen meiner Reichweite. Etwas sehr Lautloses. Aber ob diese Ruhe Schwäche, Verstohlenheit oder etwas anderes war, konnte ich wirklich nicht erkennen. Ich spürte es eigentlich so gut wie gar nicht. Das war bizarr. Ein gewalttätiger Geist verunreinigte gewöhnlich die Luft um sich herum mit seinen psychischen Sporen. Auch wenn es nur wenige sein mochten, waren sie doch nicht zu verfehlen.
Ich kam zur letzten Strophe, rezitierte die Worte im Geiste, während die von den Wänden widerhallende Musik aus der alten Flöte in die stille Luft perlte.
And yonder sits my false sister Anne,
Fol de rol, de rally-o,
Who drowned me for the sake of a man …
Die schwache Präsenz wurde in meinem lauschenden Geist ein wenig stärker, lebhafter. Aber zugleich wurde sie stiller und leiser. Ich spürte, wie ihre Aufmerksamkeit mich durchströmte wie eine Turbulenz kaltes Wasser und gegen meine Haut brandete.
Als lauschte sie. Als hätte die Musik sie angelockt, nicht wegen irgendwelcher Kräfte, die ich besaß, sondern wegen irgendetwas in der Melodie selbst, worauf sie reagierte. Aber auf jeden Fall wusste ich, sie war in der Nähe. Ich wusste, diese Stille war ein Zeichen für Aufmerksamkeit, ein gieriges Schweigen, das die alte Melodie verschlang und sich für mehr weit öffnete. Sollte es wirklich so einfach sein? Ich ließ die letzten Töne klingen, dehnte sie in einen sich zuspitzenden Faden aus Klängen wie eine Angelschnur, zog ganz behutsam daran, und …
… sie war weg. So abrupt, dass es war wie das Platzen einer Seifenblase. Im einen Moment war da ihre neckende Wahrnehmung, die über mir schwebte, in die Süße der Musik eintauchte, und im nächsten Moment nichts mehr. Tod, Leere, allgemeine Stille.
»Scheu«, dachte ich bitter. Ich hätte nicht nach ihr tasten sollen. Ich hätte untätig bleiben und es geschehen lassen sollen. Mist!
Die Tür öffnete sich mit dem Knarren vernachlässigter Angeln, und Rich schaute vorsichtig und besorgt herein.
»Wie läuft’s?«, fragte er.
»So lala«, entgegnete ich knapp.
5
E s sei ein Freitag gewesen, berichtete Rich, und es war bereits achtzehn Uhr fünfzehn gewesen. Seine Arbeitszeit gehe von acht Uhr dreißig bis siebzehn Uhr, und er bekomme keine Überstunden bezahlt, aber es sei für ihn nichts Besonderes, länger zu arbeiten. Ab und zu müsse man eben eine Arbeit zu Ende bringen, und wenn man nach Hause gehe, ehe sie erledigt sei,
Weitere Kostenlose Bücher