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Felix Castor (01) - Den Teufel im Blick

Felix Castor (01) - Den Teufel im Blick

Titel: Felix Castor (01) - Den Teufel im Blick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mike Carey
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diese furchtbaren, altertümlichen gedruckten Listen und Aufstellungen, in die seit Millionen von Jahren niemand mehr reingeguckt hat. Ich übertrage sie auf den Rechner. Hunderte und Tausende. Das treibt einen beinahe in den Wahnsinn. Sylvie ist die einzige Abwechslung, die wir haben.«
    »Sylvie? Ist sie auch eine Aushilfskraft?«
    Cheryl lachte kurz und schallend. »Nein, Sie Idiot. Sylvie ist der Geist.«
    »Das ist …«
    »Nur mein Name für sie. Ja. Irgendwie muss man sie doch nennen, oder?«
    »Weshalb? Spricht sie mit Ihnen?«
    Sie schüttelte den Kopf, wobei ein Stirnrunzeln in ihrer ausdrucksvollen Miene erschien und sofort wieder verschwand. »Nicht mehr. Sie schwatzte in einem fort, als sie das erste Mal auftauchte. Jetzt höre ich keinen Pieps mehr von ihr.«
    Ich spitzte die Ohren. »Worüber sprach sie denn?«, fragte ich und bemühte mich um einen beiläufigen Tonfall.
    »Keine Ahnung«, sagte Cheryl und wirkte unfreundlich und eingeschnappt. »Ich spreche die Sprache nicht. Sie sprach Russisch, Schwedisch, Deutsch oder wer weiß was, und ich habe kein Wort verstanden. Außer wenn sie von Rosen sprach. Das verstand ich.«
    Russisch, Schwedisch oder Deutsch. Oder irgendwas. Eine große Brandbreite. »Sehen Sie sie häufig?«, fragte ich weiter und stellte den Punkt einstweilen zurück.
    Cheryl nickte. »Ja. Ich sehe sie mehr oder weniger jeden gottverdammten Tag. Ich glaube, ich liege auf ihrer Wellenlänge.«
    »Sie haben keine Angst vor ihr? Nicht einmal nach dem, was mit Rich geschah?«
    »Nein. Sie würde mir nichts tun. Man hat ein Gefühl dafür, ob man bei jemandem sicher ist, und bei ihr fühle ich mich sicher. Sie steht da und sieht mir bei der Arbeit zu – manchmal eine halbe Ewigkeit. Ich bin die Einzige, die wegen ihr nicht ausflippt, daher nehme ich an, dass sie sich bei mir wohlfühlt. Möglicherweise mag sie auch keine Männer.«
    Cheryl hielt inne und dachte einen Augenblick nach. Dabei musterte sie mich mit abweisender Ernsthaftigkeit.
    »Ich sollte Sie eigentlich verabscheuen«, stellte sie fest. »Weil Sie gekommen sind, um sie loszuwerden. Das ist fast wie Mord, nicht wahr? Als wäre sie tot, und Sie ermorden sie ein zweites Mal.«
    Eine Pause entstand, die lang genug war, um anzunehmen, dass sie geendet hatte. »Nun, augenscheinlich sehe ich es nicht wie …«
    »Aber in Wahrheit ist sie, glaube ich, sehr, sehr traurig.«
    Sie zeichnete mit der Fingerspitze eine Linie auf die Tischplatte und musterte sie stirnrunzelnd, ihre Miene ernst, fast unglücklich.
    »Ich glaube, Sie würden ihr einen Gefallen tun.«
    *
    Jon Tiler war fast genauso abgeneigt, mit mir zu reden wie Alice – aber Alice war inzwischen wieder erschienen und erklärte ihm scheinheilig, Peele bestehe auf voller Kooperation des gesamten Personals. Ich konnte Alice nicht leiden, wovor ich mich in Acht nehmen musste. Ich mochte nicht, wie sie sich auf Peeles Kosten wichtig machte.
    Im Interviewraum war Tiler angespannt und einsilbig. Aber angespannt und einsilbig war er auch im Arbeitsraum gewesen. War er schon lange im Bonnington? Nein. Gefiel es ihm? Ja. Hatte er den Geist gesehen? Ja. Häufig? Ja. Hat er ihm Angst gemacht? Nein.
    Ich fragte das alles nur der Form halber. Ich hatte längst das Gefühl, den Geist allmählich in den Griff zu bekommen – oder zumindest eine Vorstellung davon zu entwickeln, weshalb er hier war –, daher brauchte ich eigentlich keine zusätzlichen Erkenntnisse von Tiler. Es widerstrebte mir nur, nicht alles versucht zu haben. Ich schätze, ich bin der in der analen Phase hängen gebliebene Ghostbuster.
    Daher stocherte ich noch etwas herum.
    »Haben Sie eine Idee«, fragte ich ihn, »was Geister eigentlich sind?«
    »Nein«, entgegnete Tiler mit dem Anflug eines spöttischen Grinsens. »Das ist doch Ihr Ding, nicht wahr, und nicht meins.«
    »Meist sind sie nicht die Geister der Toten, sondern ihre emotionalen Spuren. Abdrücke, die aus Gründen, die wir nicht verstehen, dort erhalten bleiben, wo starke Emotionen empfunden wurden.«
    Ich betrachtete ihn für einige Sekunden, und er fixierte einen Fleck an der Decke irgendwo hinter meiner linken Schulter. Seine Miene war mürrisch und todernst.
    »Daher«, sagte ich, »erwarte ich normalerweise, Indizien für eine starke Emotion zu finden, die mit dem Erscheinen des Geistes im Archiv zusammenhängt. Etwas, das intensiv genug ist, um ein emotionales Echo zu hinterlassen.« Kunstpause. Immer noch nichts. »Die einzigen starken

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