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Felix Castor (01) - Den Teufel im Blick

Felix Castor (01) - Den Teufel im Blick

Titel: Felix Castor (01) - Den Teufel im Blick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mike Carey
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als ich das hörte. Was der Mann getan hatte, war ekelhaft. Unverzeihlich. Alles, was er durchlitten hatte, war zehnfach verdient. Aber er hatte nicht die Absicht gehabt, jemanden zu ermorden. Er hatte nur etwas Dummes getan und danach alles versucht, um dafür zu bezahlen, nur um feststellen zu müssen, dass ihm lebenslänglich ohne Chance auf Begnadigung bevorstand. Ich stand vor ihm und richtete über ihn, schuldig, dann unschuldig, dann wieder schuldig, ehe ich zu der einzigen Schlussfolgerung kam, die ich treffen konnte: Es war nicht an mir, ein Urteil zu fällen.
    »Ich denke, es gibt eine Möglichkeit, aus dieser Sache herauszukommen, Tom«, sagte ich. »Ich glaube, wir können einander helfen.«
    Ich musste etwa eine Woche lang täglich auf seinem Fußboden schlafen und in dem dunklen Raum sitzen, ehe ich endlich eine Witterung von dem kleinen Geist auffing, der sich in all der abgelagerten Asche versteckte. So viel Angst und Verzweiflung aus einer so winzigen Quelle. Ich erregte seine Aufmerksamkeit mit Kinderliedern: »The Grand Old Duke of York«, »The Old Woman Tossed Up in a Basket«, »Boys and Girls Come Out to Play«. Danach war es einfach. Licht brach durch die Asche, während ich spielte, und der Raum nahm wieder seine normalen Farben an. Als ich endete, war all der schmierige, rohe Schmerz verschwunden. Ein Schrei, der die Augen statt der Ohren traf, war verstummt.
    Ich war erschöpft. Ich fühlte mich umhüllt, schmierig und schwarz von Asche, die nicht mehr zu sehen war. Ich stand auf, um zu gehen, aber Wilke ließ es nicht zu. Er stand in meiner Schuld, und aus einem Gefühl der Verpflichtung, das so extrem war wie zuvor sein Kummer, bestand er darauf, sich zu revanchieren. Er zeigte mir jedes Schloss, das existierte, angefangen bei einfachen Riegeln und Sperren über jede Art von Zuhaltung, Stiften, Scheiben und Platten bis hin zu hypermodernen Zentralschlüsselsystemen, die für die moderne Entfesselungskunst ungefähr genauso wichtig sind wie angereicherte Urangranaten für das Dartspiel.
    Ich sog alles auf. Ich war der beste Schüler, den er je gehabt hatte, und zu guter Letzt wurde er danach gläubig und empfing die Priesterweihe. Ich sah ihn nie wieder.
    *
    Ich erwähne das alles nur, um etwas klarzustellen: Ich brauchte Alice’ Schlüssel nicht. Mit ausreichend Zeit und dem Werkzeug, das ich von Tom Wilke geerbt hatte, hätte ich in jeden Raum des Archivs gelangen können. Nein, was ich brauchte, war Alice’ Kennkarte, denn die Schlösser waren allesamt an die Kartenleser an jeder Tür angeschlossen. Ein Schlüssel allein würde die Türen zwar öffnen, aber gleichzeitig einen Alarm auslösen. Auf diese Art und Weise konnte ich überall hinein und heraus, ohne dass jemand etwas merkte. Hoffte ich.
    Nachts machte das Archiv einen ganz anderen Eindruck.
    Ich meine das wörtlich: Es hatte andere Resonanzen, eine andere Tonalität, und da es leer war – da keine andere menschliche Präsenz zugegen war, die die Wirkung mit eigenen Empfindungen und Assoziationen hätte beeinträchtigen können –, spürte ich sein volles Gewicht, als ich durch die dunklen Korridore schritt.
    Es war eine unheilvolle Last, sogar eine gefährliche. In der Luft lag ein Aroma von Gewalt und sinnlosem Zorn. Wenn man nicht in meinem Gewerbe tätig war, musste man sich vorzustellen versuchen, dass solche Dinge ein Aroma haben – für mich hatten sie es jedenfalls.
    Ich fand den Weg zum russischen Raum, verschaffte mir als Alice Zutritt und tauchte wieder in die Kartons ein. Nur noch sieben waren übrig, daher konnte ich das Ganze innerhalb von zwei Stunden abschließen. Ich schaltete eine Lichtbahn ein. Der Tresorraum hatte keine Fenster, daher bestand nicht die Gefahr, von der Straße gesehen zu werden. Nach einem Augenblick des Wassertretens kehrte ich in den Fluss zurück, und bald hielt die Zeit wieder in den trüben Schichten der Vergangenheit an.
    Auf irgendeiner Ebene nahm ich ein Motorrad wahr, das auf der Straße vorbeifuhr und freundliche Vibrationen im Boden unter meinen Füßen erzeugte. Dann herrschte wieder Stille, die nach der kurzen Störung noch tiefer erschien.
    Ich kehrte wieder in den Rhythmus der emotionalen Suchfahrt zurück, und meine Finger flogen über die Papiere und klopften sie auf eine winzige Signatur ab, die niemand außer mir entwirren konnte. Ich machte es langsam, sehr langsam, denn während ich mich dem Ende des Stapels näherte, verharrte ich länger über den ausgebreiteten

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