Felsenfest: Alpenkrimi (German Edition)
Weihrauchkessel, und ein unwirklicher, romantischer Dunst legt sich über das Bild. Das Ehepaar spricht freudestrahlend in die Kamera:
» WIR SIND DIE GRASEGGERS –«
Beide werfen eine Schaufel Erde ins Grab.
»– UND DA SAN MIR DAHOAM !«
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Dass die Staatsbibliothek des Freistaats Bayern bis vierundzwanzig Uhr geöffnet hatte, lag nicht etwa an den bienenfleißigsten, sondern an den stinkefaulsten Studenten. Das waren diejenigen, die ihre akademischen Arbeiten auf den allerletzten Drücker hinfetzten, nicht selten drohte der endgültige und unwiderrufliche Abgabetermin am nächsten Morgen. Deswegen stießen Ursel und Ignaz Grasegger, als sie bei Einbruch der Nacht den großen prächtigen Lesesaal betraten, auf viele hohläugige und nägelkauende Kandidaten der Geisteswissenschaften – auf künftige Pädagogen zum Beispiel, die ihren Schülern dereinst einbläuen werden, die Schularbeiten rechtzeitig anzufangen und nicht auf den allerletzten Drücker … aber die Graseggers achteten nicht darauf, denn sie waren im Forscherfieber. Ursel hatte im Archiv des Heimatvereins einen Hinweis auf einen wichtigen, verschollenen Vertrag bezüglich ihrer Heimat gefunden. Einen Vertrag aus dem Jahre 1294 , der also über siebenhundert Jahre alt war.
Ignaz spielte die Rolle des Wagner, Ursel die des Faust. Ignaz war demzufolge der Zuträger, Kopierer, Bücherherholer, Googler und unbekannte-lateinische-Vokabeln-Nachschauer. Ursel hatte es sich zum Ziel gesetzt, das Geheimnis, das ihre Heimat umgab, bis Mitternacht aufzudecken. So wälzten sie dicke historische Schinken und rechtsgeschichtliche Lexika, im Internet gaben sie immer wieder den Suchbegriff FAVOR CONTRACTUS ein, immer in neuen Kombinationen mit den Zusätzen ›Werdenfelser Land‹, ›Fürstbischof Emicho‹, ›König Adolf von Nassau‹ – aber so einfach ging es natürlich nicht. Das Ganze war so verdammt lange her, dass die neuen Medien darüber kaum etwas Brauchbares ausspuckten. Ursel war sich sicher, dass sie hier einem Geheimnis auf der Spur war, das mehr politische Bedeutung hatte als ein bürgermeisterliches Ehegattensplitting. Ihr angestrebtes gemeinsames Amt, das heute Morgen noch das große Thema gewesen war, spielte jetzt kaum mehr eine Rolle. Die beiden witterten Aufsehenerregenderes.
»Da, schau her, hier hab ich noch ein Beispiel für einen Ewigkeitsvertrag gefunden«, sagte Ursel, und sah von einem Buch auf. »Wenn die katholische Kirche zum Beispiel von einem weltlichen Besitzer Grund gekauft hat und ein sakrales Gebäude wie einen Friedhof oder eine Kapelle draufbaut, dann darf die Kirche diesen Grund nie mehr verkaufen, und der Grund und Boden ist für einen profanen Besitzer tabu – bis in alle Ewigkeiten. Selbst wenn sich die Kirche und der weltliche Kaufinteressent einig wären – so ein Kauf wäre nichtig und könnte jederzeit angefochten werden.«
»Ja, das hab ich jetzt schon verstanden«, brummte Ignaz und wuchtete einen neuen Stapel verstaubter Kladden auf den Tisch. Schweigend suchten sie weiter.
Sie fielen natürlich auf, die beiden urwüchsigen und beleibten Trachtenjankerträger, inmitten all der dürren Krischperln von Studenten und wissenschaftlichen Hilfskräften. Bald schlurfte ein kleines, verhutzeltes Männchen an den Lesetisch. Ignaz wollte schon die Geldbörse ziehen und ihm einen Euro zustecken, weil er dachte, das wäre jetzt endlich ein Vertreter des berühmten akademischen Proletariats, den man auf diese Weise unterstützen konnte. Aber das kleine verhutzelte Männchen stellte sich als Professor Hartmut Kling vor.
»Mir ist aufgefallen«, hauchte er im Bibliotheksflüstermodus, »dass Sie sich für mittelalterliche bayrische Geschichte interessieren. Wenn die Herrschaften etwas Bestimmtes suchen, dann kann ich Ihnen vielleicht behilflich sein. Es ist mein Spezialgebiet.«
»Das trifft sich gut«, zischelte Ursel zurück. »Wir suchen nach einem Vertrag, der 1294 zwischen Bischof Emicho von Freising und dem deutschen König Adolf bezüglich des Werdenfelser Landes geschlossen worden ist. Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem wir nicht weiterkommen.«
Professor Kling musterte die beiden. Sie schienen ihm vertrauenswürdig zu sein.
»Folgen Sie mir.«
»Wohin?«
»Waren Sie schon mal in der Handschriftenabteilung?«
Sie mussten sich eine Art Krankenhauskittel umbinden, weiße Baumwollhandschuhe überstreifen und eine Plastikhaube aufsetzen. In einem klimatisierten Raum brachte
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