Felsenfest: Alpenkrimi (German Edition)
Graseggers. Die Luft war lau, die allerfrühesten Vögel zwitscherten, irgendwo jodelte ein Spätheimkehrer einen rauschigen Sehnsuchtsjodler. Abrupt schwieg auch er. Ursel und Ignaz genossen auf der Terrasse den würzigen Duft der Nebelschwaden.
»Was ist eigentlich aus dem guten Wirsing mit Speckknödeln geworden, Ignaz?«, fragte Ursel.
»Von gestern Abend?«, antwortete Ignaz. »Davon ist nichts mehr da. Leider.«
Jennerwein wälzte sich schlaflos im Bett. Genervt erhob er sich und ging ein paar Schritte auf und ab. Er blickte aus dem Fenster. Er versuchte die Erinnerung an den Geschmack von Irenes Keksen zurückzudrängen. Sie hatte damals genau an dem Abend mit ihm Schluss gemacht, als er ihr mitgeteilt hatte, dass er sich bei der Polizeischule angemeldet hatte. Sie beteuerte, dass das eine nichts mit dem anderen zu tun hatte. Jennerwein hatte ihr nicht geglaubt. Dann hatte er nie mehr etwas von ihr gehört. Bis zum gestrigen Tag. Er hatte sie selbst nicht gesehen, aber auf dem Tischchen von Gudrian war eine Schale mit ihren zitronigen Keksen gestanden. Jetzt tat es ihm leid, dass er keines mitgenommen hatte.
Türkisfarbenes Meer, schimmernder weißer Sand, handwarmes Wasser – Trinidad. Am Strand lag Susi Herrschl in einer Hängematte, die zwischen zwei Palmen gespannt war, und schlürfte an ihrem Sundowner. Sie steckte die Kontoauszüge zurück in ihre Badetasche. Aus der Strandbar wummerte Merenguemusik in voller Lautstärke, sie wippte mit dem Fuß im Takt dazu. Das hat ja wunderbar geklappt, dachte sie. Ihre Klassenkameraden! Mit so einer großen Summe hatte sie gar nicht gerechnet. Ein bisschen waren sie wohl alle in sie verliebt gewesen.
Landeshauptstadt. Früher Morgen. Professor Kling saß an seinem Schreibtisch. Er sah übermüdet aus. Er hatte die ganze Nacht nicht geschlafen. Er griff zum Telefon.
»Darf ich den Herrn Minister sprechen? Es ist wichtig.«
53
Die Nachricht von Beppo Prallingers Tod erreichte die Polizeiinspektion, als es gerade hell wurde, und innerhalb von zehn Minuten hatte sich das vollständige Team Jennerweins im Revier versammelt. Nur der arme entstellte Franz Hölleisen schob immer noch Wache auf der Kramerspitze.
Die ersten Ergebnisse der gerichtsmedizinischen Untersuchung hatten noch keine großen Erkenntnisse über die Todesumstände gebracht, so zerfetzt und zerstampft war der Körper Prallingers, einst Oberregierungsrat in der Besoldungsgruppe A 14 , nunmehr nach dem Bayerischen Beamtengesetz (»Das Beamtenverhältnis endet mit dem Tod des Beamten«) – tot, allerdings in diesem besonderen Fall mit einem Anspruch auf ein Begräbnis mit militärischen Ehren.
»Waren Sie mit ihm befreundet, Hubertus?«
Jennerwein antwortete nicht gleich. Er schien in Gedanken versunken.
»Auch ihn kannte ich nicht sehr gut«, sagte er schließlich leise. »Beppo Prallinger saß immer rechts, und meistens in der zweiten Reihe. Er war ein ruhiger, unauffälliger Mitschüler, er hat meines Wissens dann Jura studiert und einen Job im Ministerium angenommen.«
»Stimmt«, warf Ostler ein. »Im Finanzministerium. Da habe ich gestern schon angerufen. Eine freundliche Dame hat mir gesagt, dass er dort Sonderaufgaben innehat, irgendetwas bei der Schlösser- und Seenverwaltung. Liegenschaftsrecht. Grenzmarkierungen. Aber das ist ja jetzt nicht mehr wichtig.«
Es entstand eine Pause. Alle waren sichtlich schockiert über die Tatsache, dass ein weiterer Klassenkamerad Jennerweins zu Tode gekommen war. Stengele brach das Schweigen.
»Die Bergwacht hat mir mitgeteilt, dass Prallinger in eine Art Felstasche gestürzt ist, die man schwer einsehen kann. Wenn da nicht dieser Tom Fichtl herumgeklettert wäre –«
»Mit dem werden wir noch ein Hühnchen zu rupfen haben!«
»Die Bergwacht hat die Suche jedenfalls nicht abgebrochen. Die Suche nach weiteren Opfern und – sicherheitshalber – nach dem flüchtigen Täter. Und nach größeren Treibsandstellen.«
»Die Gerichtsmedizinerin steckt auch noch mitten in den Untersuchungen«, sagte Ostler. »Sie hofft, doch noch brauchbare Spuren bei Prallinger zu finden. Sie meldet sich, wenn sie Ergebnisse hat.«
Nicole schüttelte verwundert den Kopf.
»Dann sind also fünfzehn und nicht vierzehn Personen bei der Klassenwanderung mitgegangen? Wie kann uns das denn eigentlich entgangen sein?«
»Nein, es waren schon vierzehn«, sagte Jennerwein. »Einer der Verletzten hat mit dem Klassentreffen gar nichts zu tun. Es ist ein
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