Femme Fatales
abgesehen, war es still. Unmöglich zu bestimmen welcher Tag heute war, wie viel Uhr oder wo genau sie sich befand.
Sie kam sich so schmutzig und nackt vor, als hätte man sie aus ihrer Haut gerissen, um dann ihr Inneres bloß und blutig in die Welt zurückzuwerfen. Eine Welt, in der nichts mehr so sein konnte, wie zuvor. Und in der es nichts und niemanden mehr gab, dem sie noch vertrauen konnte oder – durfte .
„Wir beobachten Dich“ – die blecherne Stimme hallte in Milenas Hirn wieder.
Über der Tankstelle hatte irgendwer ein auffallendes rotes Spruchband befestigt. In all dem tristen Betongrau um sie herum, bildete es den einzigen Farbfleck. Auf eine irrationale Art war sie sicher, dass man es dort einzig für sie angebracht hatte. Die Maximen der Revolution waren in weißer Farbe darauf gedruckt: Liberté , Ègalité, Fraternité.
Der weiße, geflieste Nebenraum. Das Pissoir. Dieser Hurenmantel. Die aufgelassene Tankstelle und jenes Spruchband, das waren keine Zufälle, sondern ausgeklügelte zusätzliche Demütigungen und Einschüchterungsversuche ihrer Entführer. Ein neuer heftiger Schlag in ihr Gesicht.
Auf der Hochstraße näherte sich das Brummen von schweren Lastwagen.
Milena sah auf: fünf, sechs – sieben oder acht - giftgrüne Müllwagen.
Die sind auf dem Weg in die Innenstadt, meinte sie. Und erkannte, dass es früher Morgen sein musste. Irgendwann zwischen drei Uhr dreißig und fünf. Denn das war die Zeit, zu der die Pariser Müllabfuhr gewöhnlich ausrückte.
„Wir beobachten Dich“, erklang diese blecherne Diktiergerät-Stimme wieder in ihrem Kopf.
Milena würgte unter Krämpfen grünlich ätzenden Schleim hervor, der aus ihrem Mund über die glatte schwarze Haut des Mantels auf den Asphalt herab tropfte.
1 0.
Milena stieß auf eine Telefonzelle. Eine der wenigen, die nicht von Junkies auf der Suche nach Kleingeld oder Randalierern zerstört worden waren.
Sie rief ein Taxi.
Der schwarze Taxifahrer stellte ihr keine Fragen, als sie auf den Rücksitz sprang und ihm flüsternd die Adresse ihrer Wohnung nannte. Er musste schon Seltsameres gesehen haben, als eine totenbleiche Frau, die ohne Schuhe und in einem bekotzten Regenmantel gegen vier Uhr morgens in einer der Vorstädte sein Taxi bestieg.
In ihrem Appartement angekommen, warf Milena den Plastikmantel von sich, um dann unter ihrer Dusche zu verschwinden, wo sie sich auf den Boden hockte, die Arme um die Knie schlang und sich solange von dem heißen Wasserstrahl berieseln ließ, bis dass der Boilerinhalt erschöpft war und nur noch kaltes Wasser über sie hinwegströmte.
Sie wusste immer noch nicht welcher Tag heute war oder, ob sie im Büro erwartet wurde.
Vor allem aber wusste sie jetzt noch weniger als je zuvor, was ihre Entführung zu bedeuten gehabt hatte. Man hatte sie am Leben gelassen. Und es waren wohl auch keinerlei Lösegeldforderungen erhoben worden. Sowieso – an wen hätten die ergehen sollen? Es gab doch niemanden, der für Milenas Freilassung gezahlt hätte. Keine Familie, keine Verwandtschaft oder enge Freunde, denen ihre Freiheit viel Geld wert gewesen wäre.
Doch niemand zog doch solch eine Entführung durch, ohne sich davon nicht irgendeinen Vorteil zu versprechen. Was versprach man sich davon, irgendeine ganz gewöhnliche junge Frau zu entführen, zu foltern, zu demütigen und sie dann einfach wieder ohne irgendeine Erklärung in die Welt zurück zu werfen?
„Wir beobachten dich.“
Zweifellos.
Nur fragte sich: Tat man es nur, um sicher zu gehen, dass Milena nicht doch noch zur Polizei ging? Oder steckte mehr dahinter? Und zwar möglicherweise sogar Furchtbareres als das, was sie bislang durchgemacht hatte. Doch was hätte furchtbarer sein sollen, als dies?
Milena sah einen schemenhaften Schatten in dem von Wasserdampf beschlagenen Spiegel über ihrem Waschbecken.
Sie wischte den Spiegel frei und betrachtete lange ihr Gesicht darin.
Dieses Gesicht hätte sich verändern müssen, jetzt, wo sich für Milena die ganze Welt geändert hatte. Aber abgesehen davon, dass es bleicher wirkte, als gewöhnlich und verschlossener, deutete darin nichts darauf hin, dass Milena in den letzten Tagen durch die Hölle gegangen war.
Einige erschreckende Fragen tauchten in Milena auf. Fragen, die sie sich nie zuvor hatte stellen müssen. Eine davon und vielleicht sogar die wichtigste lautete: Was war der Mensch? Was machte Menschen wirklich aus, wenn bereits ein paar Stunden in einem schalldichten
Weitere Kostenlose Bücher