Femme Fatales
Romane, die er je gelesen hatte.
35.
Auch die zweite Zigarette war zu Ende geraucht und Nolde fühlte sich unschlüssig, ob er ihr eine dritte folgen lassen sollte, als ihn ein Geräusch aus seinen Gedanken riss. Ein wenig klang es wie das Rascheln von Papier. Nur war hier nirgendwo ein Stück Papier zu sehen, das unter der warmen Frühlingsbrise, die durchs offene Fenster hereinwehte, hätte rascheln können.
Eine der Eigenschaften, die Nolde zu einem so erfolgreichen Detektiv machten, bestand darin, dass er in bestimmten Situationen einfach instinktiv funktionierte. So begann sein Hirn automatisch damit den Raum in Planquadrate aufzuteilen, die er dann systematisch solange durchsuchte, bis er fand was es hier zu finden gab.
In dem Winkel unter dem Fensterbrett und der Wand im zweiten Schlafzimmerfenster war lose ein Stück Papier befestigt.
Nolde schob die Streifenjalousie beiseite und befreite sorgsam das Dokument von dem Stück Tesafilm, mit dem es dort angeheftet war.
Es handelte sich um die Kopie einer Abrechnung. Zwar war darin kein Name genannt, nicht einmal der jener Institution, die jene Abrechnung angefertigt oder in Auftrag gegeben hatte. Doch Nolde wusste ohnehin woher jene Kopie gekommen war. Denn zwischen einigen geschwärzten Zeilen stachen die einzigen nicht unkenntlich gemachten Angaben nur umso deutlicher ins Auge.
Obwohl man sich durchaus bemüht hatte, die wahre Natur jenes Abrechnungspunktes hinter einer ganzen Reihe harmlos klingender Begriffe zu verbrämen, brauchte Nolde keinen zweiten Blick um zu erkennen, was er da wirklich in der Hand hielt: Die Abrechnung der Kosten von Milenas Entführung. Und soweit er dem Dokument trauen durfte, hatte man dabei sogar unerwartet noch Kosten gespart, denn ging der ursprüngliche Kostenvoranschlag von 82.956 Euro aus, so lagen die realen Kosten bei 74.512 Euro.
Zum x-ten Male fragte Nolde sich, was er Milena damals vor Madame Vaux Schreibtisch hätte sagen sollen, was ihr die entwürdigende Leere dieser Wohnung und des Lebens, das sie darin führte, hätte ersparen können.
Vielleicht war die Antwort darauf trotzdem einfach.
Er hätte Milena darauf hinweisen sollen, dass es kein Leben auf Probe gab und jede Stunde die verstrich unwiederbringlich verloren war. Doch jene Zeit, die man in einem falschen Leben zubrachte, zählte dabei nicht nur doppelt, sondern gar drei- oder vierfach als verloren. Was man aus Angst erreichte, das wurde stets auch mit Angst bezahlt. Die Mächtigen fielen irgendwann genauso der Hybris der Macht zum Opfer, wie die Ohnmächtigen dem Zorn über ihre Machtlosigkeit. Zuletzt hatte dies wohl sogar eine Madame Vaux einsehen müssen.
Nolde faltete die Abrechnungskopie nachdenklich zusammen und verstaute sie in der Innentasche seines Sommermantels, dann ging er in die Küche und verbrannte sowohl den Umschlag als auch jene Notiz mit Adresse und Türchiffre in der Edelstahlspüle. Er verriegelte das Schlafzimmerfenster und verschloss zuletzt auch die Wohnungstür. Den Schlüssel warf er in irgendeinen der Briefkästen. Er glaubte nicht, dass seine Besitzerin - wo immer sie jetzt war und ganz gleich was sie da trieb - in nächster Zeit danach suchen würde.
Die Straße lag immer noch in derselben stillen Eintönigkeit vor ihm als er das Haus verließ. Für Nolde hatte diese Stille etwas von einem Friedhof. Auf dem man statt Toter in Särgen, die T räume, Erwartungen und Hoffnung der Lebenden unter einer immer gleichen Abfolge von Alltäglichkeiten begrub.
Das war der große geheime Trick, der hinter jener Weisheit von der Zeit, die angeblich alle Wunden heilte, steckte. In Wahrheit wurde keine Wunde durch die Zeit geheilt. Sie wurde nur unter der unausweichlichen Last der Stunden, Tage, Wochen und Jahre so lange begraben, bis sie darunter unsichtbar geworden war.
Aber je tiefer jene unsichtbare Wunde einst gewesen war, umso sicherer durfte man sein, dass sie irgendwann wieder aufbrach. Aber wer hätte dann schon sagen können wie viel Verachtung, wie viel Angst und Hass plötzlich erneut darunter hervorzuquellen begann?
Nolde stieg in seinen Wagen und drehte auf dem Weg zurück die Heizung bis zum Anschlag auf. Jeder andere hätte bei der Hitze, die daraufhin bald im Wagen herrschte schwitzen müssen.
Nolde fror.
36 .
Die folgenden Tage tat Nolde nur das Allernotwendigste, um sich dann regelmäßig in sein Büro zurückzuziehen, wo er schweigend vor sich hin brütete.
Was Madame Vaux und den Konzern betraf, so
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