Fenster zum Tod
dass sie nicht deshalb nicht zu Hause angerufen hatte, weil sie ein gedankenloses, egoistisches Miststück war, sondern weil sie Angst hatte, es würde sie das Leben kosten, wenn sie es täte.
Allison kam zu dem Schluss, es sei besser, ihre Mutter jetzt tausend seelische Tode sterben zu lassen und eines Tages wohlbehalten vor ihrer Tür zu stehen, als sie mit einem Anruf in Sicherheit zu wiegen und dafür selbst den körperlichen Tod zu erleiden. In gewisser Hinsicht, so dachte Allison, war ihre Rücksichtslosigkeit ihren Mitmenschen gegenüber in diesem Fall vielleicht sogar ein Segen. Möglicherweise machte sich ihre Mutter gar nicht so große Sorgen. Wäre sie eine von den Töchtern, die ihren Eltern über jede Minute des Tages Rechenschaft ablegten, und ließe dann nichts mehr von sich hören, ja, das wäre dann wirklich ein Grund zur Sorge.
Allison versuchte sich einzureden, dass es so war, obwohl sie genau wusste, dass es anders war. Ihre Mutter war wahrscheinlich schon halb wahnsinnig vor Kummer.
Hin und wieder lieh sie sich auf ihrer Odyssee einen Computer und recherchierte über sich selbst. Doch ihr Verschwinden hatte nur einmal, kurz nach ihrem Untertauchen, einen gewissen Nachrichtenwert gehabt, später fand sich kaum mehr etwas. Nicht sehr ermutigend. Zu wissen, dass man so unwichtig war. Dass man völlig vom Erdboden verschwinden konnte und niemand sich die Mühe machte, die Öffentlichkeit darauf aufmerksam zu machen, nicht einmal mit Hilfe von Fotos auf Milchkartons. Vielleicht war sie dafür schon zu alt.
An Berichten über den Tod von Bridget Sawchuck mangelte es allerdings nicht.
Ganz im Gegenteil.
Woran es mangelte, waren Einzelheiten, und von den wenigen, die es gab, wusste Allison, dass sie allesamt frei erfunden waren.
»Plötzlich verstorben.« Na ja, irgendwie stimmte es ja. Aber nicht ganz.
Wäre Allison nicht schon vorher völlig überzeugt gewesen, dass sich in die Büsche zu schlagen das Klügste war, was sie tun konnte, dann hätten die Berichte über Bridget sie garantiert umgestimmt. Wenn die, die an den Schalthebeln der Macht saßen, fähig waren, den Mord an einer Frau wie Bridget zu vertuschen, dann waren sie zu allem fähig.
Zur Polizei zu gehen kam nicht in Frage. Natürlich müsste sie dann auch ihren Erpressungsversuch eingestehen, doch das hielt sie für das geringste ihrer Probleme. Sie hatte Angst, dass eine Aussage bei den Behörden gleichbedeutend mit ihrem Todesurteil wäre.
Also blieb sie nie lange an einem Ort seit ihrer Flucht aus der Wohnung.
In dem Moment, in dem Allison Fitch sah, was in dem Schlafzimmer geschehen war, dass – ganz offensichtlich – jemand geschickt worden war, um sie zu töten, und stattdessen Bridget Sawchuck erwischt hatte, rannte sie los. Sie fegte in einem derartigen Tempo hinaus auf die Orchard Street, dass Passanten an eine Gasexplosion hätten denken können. Sie rannte nach Süden. Es gab keinen besonderen Grund dafür, außer dass sie Richtung Norden einer Gruppe von fünf Frauen mittleren Alters hätte ausweichen müssen, die den Gehsteig blockierten, weil sie alle gleichzeitig in einen Reiseführer sehen wollten. An der ersten Ecke bog sie nach Westen ab, an der nächsten nach Norden, an der übernächsten wieder nach Westen. Sie rannte, so schnell ihre Füße sie trugen. Bei jeder Querstraße wechselte sie die Richtung. Ihr einziges Ziel war, der Frau zu entkommen, die Bridget umgebracht hatte.
Dann stürmte sie jäh in ein Café. Sie hatte keine Ahnung, in welcher Straße es lag. Im Vorbeilaufen rief sie der Theke zu, »einen mittleren Latte«, damit sie keinen Rüffel bekam, weil sie die Toilette benutzen wollte und hielt bereits verzweifelt nach einem Wegweiser dorthin Ausschau. Instinktiv galoppierte sie eine schmale gepflasterte Treppe ins Untergeschoss hinunter. Sie fand die Toilette, wollte die Tür aufreißen. Geschlossen.
»Augenblick«, rief jemand von drinnen.
Allison stand am Treppenabsatz, sah sich um, wartete darauf, dass die Frau sie einholte.
Ein Mann kam aus der Toilette. Sie schlüpfte in den winzigen Raum mit einer einzigen Toilette und einem Waschbecken, klappte den Deckel herunter und setzte sich. Nach Atem ringend holte sie ihr Handy heraus, überlegte, wen sie anrufen konnte.
Wenn die grandiose Idee, die Frau eines Justizministers zu erpressen, in die Hose geht, und von höchster Stelle ein Auftragsmörder auf einen angesetzt wird, wen rief man dann an?
Gute Frage!
Während sie ihr Handy
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