Fenster zum Tod
verzweifelte Maßnahmen.
In Tampa fand sie Arbeit als Zimmermädchen in einem Motel namens Coconut Shade, in dem Zimmer auch stundenweise vermietet wurden. Keine Referenzen, kein Ausweis, keine Arbeitserfahrung vonnöten. Sie gab ihren Namen als Adele Farmer an. Octavio Formosa, der Geschäftsführer, ein Mittvierziger kubanischer Herkunft, bot ihr keinen Schlafplatz in seinem Wagen an, sondern ein Klappbett in einem Hinterzimmer des Büros.
Allison rechnete damit, dass auch er auf eine Gegenleistung aus war wie die meisten Männer, denen sie begegnet war, doch sie irrte sich. Octavio war ein gütiger, anständiger Mann. Seine Frau Samira war im vergangenen Jahr an einem Leberleiden gestorben. Er hatte eine siebenjährige Tochter, die er jedoch nicht an seinen Arbeitsplatz mitnehmen wollte, weil eine Absteige, in die die Leute fast ausschließlich wegen Sex kamen, keine passende Umgebung für sie war. Deshalb kümmerte seine Schwester sich um die Kleine, wenn er arbeitete.
»Die Menschen haben Bedürfnisse«, sagte er achselzuckend. »Und du brauchst einen Ort, wo du sicher bist. Ich kenne das aus eigener Erfahrung.«
Manchmal teilte er sein Mittagessen mit ihr. Wenn sie beide Nachtschicht hatten, gab er ihr hin und wieder zehn Dollar aus der Kasse und schickte sie zu einem nahe gelegenen Burger King, um da etwas zu holen, das sie sich teilen konnten. Sie unterhielten sich. Octavios Eltern waren noch in Kuba, und er hoffte, sie eines Tages nach Florida holen zu können. »Bevor sie zu alt dazu sind«, sagte er. »Ich möchte, dass sie ihre Enkelin noch sehen. Was ist mit dir?«
»Ich habe nur meine Mom«, sagte sie. »Mein Dad ist vor ein paar Jahren gestorben, und Geschwister habe ich keine.«
»Wo ist deine Mutter?«
»In Seattle«, log sie. »Wir haben schon länger nichts mehr voneinander gehört.«
»Ich wette, sie vermisst dich«, sagte er.
»Na ja«, sagte sie. »Da kann man nicht viel machen.«
»Du erinnerst mich an meine Tochter.«
»Wie kann das sein? Sie ist doch noch so klein.«
»Ich weiß, aber ihr braucht beide eure Mutter. Ihr seid beide sehr traurig.«
Seit ihrer Flucht aus der Wohnung bis jetzt, wo sie in Tampa lebte, hatte Allison Fitch viel Zeit gehabt, in sich zu gehen.
Und zu dem Schluss zu kommen, dass sie kein besonders guter Mensch war.
Sie hatte es sich immer auf Kosten anderer gutgehen lassen, angefangen bei ihren Eltern. Sie hatte immer zuerst an sich selbst gedacht. An ihre Wünsche. Ihre Bedürfnisse. Sie fing an, sich Fragen zu stellen. Was musste man für ein Mensch sein, um die eigene Mutter zu belügen, damit sie Geld schickte? Was für ein Mensch, um dieses Geld dann im Urlaub zu verjubeln, statt seiner Mitbewohnerin die schuldige Miete zurückzuzahlen? Wer machte aus einer sexuellen Beziehung ein lukratives Geschäft? Wer machte sich die Finger mit Erpressung schmutzig?
Ein schlechter Mensch.
Ein sehr schlechter Mensch.
Ein komplettes Arschloch.
Genau das war sie. Vielleicht geschah es ihr ja recht. Jedenfalls hatte sie sich das alles selbst zuzuschreiben. So viel stand fest. Sie wäre jetzt, nach monatelanger Flucht, nicht hier, um in einem Ein-Stern-Hotel in einer miesen Gegend von Tampa versaute Laken zu wechseln und sich mit Octavio Whopper zu teilen, hätte sie nicht immer nur an sich selbst gedacht.
Scheiß Karma.
Eines Nachts, als sie sich wieder einmal mit Octavio unterhielt, fragte sie ihn: »Glaubst du daran, dass man für alles Böse, was man getan hat, einmal bestraft wird?«
»In dieser Welt, meinst du?«
»Glaub schon.«
Er schüttelte bedauernd den Kopf. »Manchmal ja, manchmal nein. Ich kenne Menschen, die es verdient hätten, aber ihnen ist nichts passiert. Man kann nur hoffen, dass sie danach bekommen, was sie verdienen.«
»Wenn du noch zu deinen Lebzeiten kriegst, was du verdienst, meinst du, dass damit alles abgegolten ist?«
»Ich glaube nicht, dass du ein schlechter Mensch bist«, sagte Octavio zu ihr. »Ich glaube, du bist ein guter Mensch.«
Sie weinte. Sie weinte sehr lange. Sie weinte sich beinahe in den Schlaf. Octavio verfrachtete sie in ihr Klappbett. Er setzte sich zu ihr und tätschelte ihr die Schulter, so lange, bis sie wirklich eingeschlafen war.
Er wollte ihr helfen. Er war überzeugt, dass ihre Mutter ihr verzeihen würde, egal, was Adele getan hatte.
Als er sicher war, dass sie tief und fest schlief, holte er ihre Handtasche unter dem Bett hervor. Darin fand er einen Ausweis, aus dem hervorging, dass sie nicht
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