Fenster zum Tod
sie eine winzige Lücke. »Was denken Sie, wie geht es Ihrem Bruder?«, fragte sie.
»Schwer zu sagen. Ich bin mir sicher, dass der Tod unseres Vaters ihn nicht kaltgelassen haben kann, aber er zeigt kein Gefühl.«
»Er macht zwar völlig dicht, aber ich sehe, dass er verstört ist«, sagte Dr. Grigorin.
»Nur bei Maria ist es mit ihm durchgegangen.«
»Wer ist Maria?« Ich erklärte es ihr, und sie schüttelte belustigt den Kopf. »Es hat Ihrem Vater große Kopfschmerzen gemacht, dass Thomas so viel Zeit mit seinem Steckenpferd verbringt. Thomas hat gesagt, er mäßigt sich schon und hat sich sogar gestern Abend einen Film mit Ihnen angesehen.«
»Das stimmt aber nicht. Ich habe ihn heute nur mit Mühe und Not dazu gebracht, zu Ihnen zu kommen. Er wollte seine Arbeit nicht unterbrechen.«
»Hat er Ihnen erklärt, worin die besteht?«
»Ich wusste nicht, dass es da was zu erklären gibt«, sagte ich. »Er erkundet eben gern die Städte der Welt im Internet. Da ist er ganz wild drauf.« Ich schüttelte den Kopf und grinste. »Aber es stimmt, er hat gestern gesagt, ich dürfte erst dann erfahren, was es mit dieser Arbeit auf sich hat, wenn geklärt ist, dass ich kein Sicherheitsrisiko darstelle.«
Dr. Grigorin nickte. »Thomas hat mir erlaubt, Ihnen zu sagen, woran er arbeitet.«
Ich setzte mich etwas gerader hin. »Was soll das heißen: Woran er arbeitet?«
»Thomas glaubt, er arbeitet für die CIA, als Berater.«
»Wie bitte? Für wen? Für den amerikanischen Geheimdienst?«
»Genau.«
»Er arbeitet für die? Was macht er denn da – was glaubt er denn, was er da macht?«
»Das Ganze ist ziemlich kompliziert, und es passt auch nicht alles zusammen, ein bisschen wie bei Träumen, wo auch verschiedene Elemente aufeinanderprallen. Vor allen Dingen glaubt Thomas, dass ein verheerendes Ereignis droht, eine Art digitale elektronische Implosion oder Explosion, ich bin mir nicht sicher, was von beiden. Vielleicht ein globaler Computercrash oder möglicherweise sogar etwas, das von einer feindlichen Macht inszeniert wird – ein geniales Computervirus –, wodurch die Beschaffung von geheimdienstlichen Informationen empfindlich beeinträchtigt wird.«
»O Mann.«
»Wenn das geschieht«, fuhr sie fort, »werden als Erstes sämtliche online verfügbaren Landkarten verlorengehen. Sie werden von einer Sekunde auf die andere verschwinden. Simsalabim, weg. Das wird katastrophale Auswirkungen auf alle haben, die beim Geheimdienst auf diese Karten angewiesen sind. Denn sie haben schon lange Anweisung von höchster Stelle, Papierkosten einzusparen –« Sie muss bemerkt haben, wie meine Augenbrauen in die Höhe schossen, denn sie lächelte. »Papierkosten, wirklich. Jetzt machen die Budgetkürzungen nicht einmal mehr vor Wahnvorstellungen halt.« Sie sah ein bisschen verlegen drein, als hätte sie diesen Scherz besser sein lassen. »Worauf das Ganze jedenfalls hinausläuft, ist, dass die Regierung plötzlich ohne Landkarten aus Papier dasteht.«
Jetzt war ich nicht mehr geschockt, sondern fasziniert. Thomas’ Handeln ergab auf bizarre Weise einen Sinn.
»Und wenn das passiert«, fuhr Laura fort, »an wen, glauben Sie, wird die CIA sich wenden?«
»Lassen Sie mich raten.«
Sie nickte. »Thomas wird in der Lage sein, aus dem Gedächtnis die Pläne sämtlicher Großstädte der Welt zu zeichnen. Er hat sie alle hier drin.« Sie tippte sich mit dem Zeigefinger an die Schläfe. Ihre Nägel waren rot lackiert.
»Aber warten Sie mal«, sagte ich. »Alte Karten wird es ja trotzdem noch geben. Auf Papier. In Bibliotheken, bei den Leuten zu Hause. Millionen von Schulatlanten, Himmelherrgottnochmal!«
»Jetzt kommen Sie mir bloß nicht mit Logik«, tadelte Laura Grigorin mich. »In der Vorstellung Ihres Bruders wurden all diese Bestände bereits vor Eintreten dieses apokalyptischen Ereignisses vernichtet. Bibliotheken auf der ganzen Welt werden sie entsorgt haben und nur mehr digitales Kartenmaterial besitzen. Auch in den Privathaushalten haben die alten Landkarten ausgedient und sind zusammen mit den Zeitungen im Altpapier gelandet. Allerorten verlässt man sich auf den Computer. Das ist ja das Katastrophale daran. Es wird eine Welt ohne Landkarten sein, und der Einzige, der in der Lage sein wird, neue zu erstellen, wird Thomas sein. Und er wird nicht nur Landkarten wiedergeben, sondern auch wissen, wie jede einzelne Straße auf der Welt aussieht. Jede Ladenfront, jeder Vorgarten, jede Kreuzung.«
Ungläubig
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