Fenster zum Tod
Ihren Bruder kümmern zu müssen, war eine schwere Belastung für ihn.«
»Er hatte eine Unfallklausel in seiner Lebensversicherung«, sagte ich. »Mit der Prämie daraus und noch einigem anderen wäre Thomas eine Zeitlang versorgt.«
Dr. Grigorins grüne Augen durchbohrten mich mit ihrem Blick. »Wollen Sie irgendwas andeuten, Ray?«
Ich schüttelte nur den Kopf. »Keine Ahnung.« Ich winkte ab. »Schwamm drüber.«
»Und Sie?«, fragte sie mich. »Wie fühlen Sie sich?«
»Ich?« Die Frage kam überraschend. »Ich kann nicht klagen.«
Unsere Zeit war um. Ich stand auf. »Ach ja«, sagte sie, »das hätte ich beinahe vergessen. Ich soll Ihnen etwas gegen Ihr herrisches Wesen geben.«
Sie griff in ihre Schreibtischschublade und holte einen milchigen Plastikbehälter heraus. Darin befanden sich überdimensionale Pillen in verschiedenen leuchtenden Farben.
»Was ist das?«, fragte ich, als sie sie mir in die Hand drückte.
»M&Ms.«
Neun
A ls sie sich einigermaßen erholt hat von ihrer Verblüffung darüber, ihre neue Liebschaft im Fernsehen zu sehen, wirft Allison Fitch ihr Laptop an und beginnt zu recherchieren.
»Alter Falter«, flüstert sie immer wieder vor sich hin.
Morris Sawchuck, der jetzt mit dem Gouverneursamt liebäugelt, gehört schon in seiner gegenwärtigen Funktion als Justizminister des Staates New York zu den Mächtigen im Land. (»Alter Falter«, wiederholt sie.) Er ist siebenundfünfzig, Bridget ist seine dritte Frau. Er hat sie vor drei Jahren geheiratet, und für die Intelligenzija ist diese Ehe nach wie vor ein beliebtes Gesprächsthema, immerhin ist sie einundzwanzig Jahre jünger als er und ein echter Hingucker. Man munkelt, dass sie getrennt Urlaub machen, aber das weiß Allison ja bereits.
Seine erste Frau, Kathleen Wolcott, lernte Sawchuck während des Studiums in Harvard kennen. Die beiden heirateten, kurz nachdem er seinen Bachelor gemacht hatte, und sie bestritt als Fachangestellte in einer Anwaltskanzlei den Familienunterhalt, während er in Harvard Jura studierte. Nach fünf Jahren ließ er sich von ihr scheiden, um Geraldine Kennedy zu heiraten (nicht verwandt mit den Kennedys oder wenigstens nicht nahe genug, dass sich das in Form von Einladungen auf den Familiensitz in Hyannis Port niedergeschlagen hätte, wie einer der Artikel, auf die Allison stößt, andeutet).
Von Geraldine ließ Sawchuck sich nicht scheiden. Sie beging 2001 Selbstmord. Setzte sich bei geschlossenem Garagentor und laufendem Motor in ihren BMW, den Rest überließ sie dem Kohlenmonoxid. Sie hatte, so hieß es, eine Reihe von Krankenhausaufenthalten hinter sich, Diagnose: manisch-depressive Störung. Kathleen wird eine Bemerkung zugeschrieben, die gemacht zu haben sie jedoch immer abgestritten hat: »Keine Ahnung, warum ich das nicht getan habe. Bei Gott, gedacht habe ich daran, als ich noch mit diesem scheinheiligen Arschloch verheiratet war.«
Es gab Geschichten. Und Verwirrendes. Kathleen war schön, und auch Geraldine war eine Klassefrau gewesen. Warum mussten ausgerechnet die Typen, die mit den tollsten Frauen verheiratet waren, immer nach anderen schielen?
Sawchuck ließ sich zu keiner Stellungnahme zu den Gerüchten herab. Er richtete sich in einer angemessenen Trauerphase ein, stürzte sich in seine Arbeit als Staatsanwalt. Er verfolgte korrupte Gewerkschaftsbosse, die Russenmafia, einen Kinderpornoring und erregte damit große Aufmerksamkeit. Sein Kommentar zu Letzterem lautete angeblich, wenn er eine Möglichkeit fände, die Mitglieder des Pornorings am Times Square an den Eiern aufzuhängen, dann würde er es tun. Das brachte ihm Punkte bei den Wählern. Mit den Stimmen der Anhänger von Kinderpornographie, so die Einschätzung eines Experten, konnte er allerdings nicht mehr rechnen.
Immer wieder gibt es Morddrohungen gegen ihn. Angeblich trägt er jetzt eine versteckte Waffe bei sich, wenn er sich in der Öffentlichkeit bewegt.
Ein, zwei Jahre nach Geraldines Tod sah man ihn gelegentlich in Begleitung verschiedener und sehr attraktiver Frauen. Zeitungsfotos zeigten ihn bei Premieren, Benefizveranstaltungen, politischen Empfängen, jedes oder fast jedes Mal mit einer anderen Frau an seiner Seite. Manche Kommentatoren gaben ihrer Besorgnis Ausdruck, sein Interesse an der Damenwelt könnte sich eines Tages als politische Belastung erweisen. Bis zu einem gewissen Punkt genoss ein Don Juan allgemeine Bewunderung, doch letzten Endes hatten Frauenhelden zu viele Geheimnisse, die ans
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