Fenster zum Tod
Geschäftsfassaden.
Ich hatte es gefunden.
An dem Fenster oberhalb der Klimaanlage war kein weißer Kopf.
Mist.
Außer dem Gehäuse der Klimaanlage gab es nichts zu sehen. Nicht einmal einen Blumentopf. Das Fenster war geschlossen, und die Scheibe, hinter der keine Gardine hing, wirkte schwarz und spiegelte das Gebäude auf der anderen Straßenseite wider.
Ich zog mein Handy heraus, aktivierte die Kamerafunktion und fotografierte das Haus mit dem Fenster im Zentrum.
Ich war also tatsächlich bis nach New York gefahren, war hierhergekommen, an den Ort des – des was? –, um ein Foto zu schießen. Als Beweis für Thomas, dass ich seine Bitte erfüllt hatte.
Eine gigantische Leistung.
Würde er sich mit diesem Foto zufriedengeben? Eher unwahrscheinlich. Ich an seiner Stelle, das musste ich zugeben, fände meine Bemühungen, gelinde gesagt, halbherzig.
Es würde mich bestimmt nicht umbringen, nach oben zu gehen, zu klopfen und hallo zu sagen, wenn mir jemand öffnete. Vielleicht erhaschte ich ja einen Blick in die Wohnung, und der Styroporkopf, den ich so unbedingt sehen wollte, stand auf dem Küchentisch oder sonst irgendwo.
Wieder ein Fall gelöst von Ray Kilbride, bei Tag Karikaturist, bei Nacht Kämpfer gegen das Böse. Dumm nur, dass jetzt noch Tag war.
Ich sah mir das Fenster genau an, in der Hoffnung die Wohnung leichter zu finden, sobald ich im Haus war. Dann überquerte ich die Straße und ging hinein. Der Eingangsbereich war eigentlich nur ein kleiner Raum mit Briefkästen und einer Tafel mit den Namen der Hausbewohner. Die innere Tür erwies sich als abgesperrt. Etwas anderes hatte ich auch nicht erwartet.
Wenn auf die Tafel Verlass war, dann gab es auf der zweiten Etage fünf Wohnungen. Die Namen waren mit einem dieser DYMO-Geräte auf schmale schwarze Klebestreifen geprägt. Ich weiß noch, als wir Kinder waren, hatte mein Vater auch eines, und ich beschriftete damit alles in meinem Zimmer: »Bücherregal«, »Bett«, »Tür«, »Fenster«.
Der Zahn der Zeit hatte den Klebestreifen schon ziemlich zugesetzt, einige lösten sich bereits, und von dem für Wohnung 305 fehlte die Hälfte. Da war nur noch »ch/Walmers« zu lesen. Auf 304 wohnte Kazinski, auf 303 Goldberg, auf 302 Reynolds und auf 301 Michaels. Ich machte ein Foto. Vielleicht brauchte ich einen der Namen später noch einmal. Außerdem fotografierte ich einen Zettel neben der Namenstafel, auf dem eine Kontaktnummer für Mietanfragen stand.
Was tun?
Während ich noch überlegte, stürmte ein junger Mann zur Innentür heraus. Geistesgegenwärtig packte ich den Griff der Tür, ehe sie zufallen konnte.
Ich ging hinauf in den zweiten Stock. Dort blieb ich stehen, um mich zu orientieren und zu verstehen, welches wohl die Wohnung war, deren Fenster über dem Schalgeschäft lag.
Ich entschied mich für Nummer 305.
Was für Möglichkeiten hatte ich jetzt, mehr zu erfahren? Ich konnte klopfen und, wenn jemand öffnete, sagen: »Hallo, wie geht’s? Ich heiße Ray Kilbride, und mein Bruder, der ist ein bisschen, na, Sie wissen schon. Ja, und unlängst beim Surfen im Internet, da hat er zufällig entdeckt, dass an Ihrem Fenster gerade jemand erstickt wird. Erinnern Sie sich? Ich weiß ja nicht, wie’s Ihnen geht, aber ich würde mich an so was erinnern.«
Oder wie wär’s damit?
Ich hole den Ausdruck aus der Jacke, und wenn die Tür aufgeht, zeige ich ihn her und sage: »Wir haben das Haus auf Whirl360 gesehen, und da ist uns in Ihrem Fenster das hier aufgefallen. Würde es Ihnen was ausmachen, mir zu sagen, was zum Teufel das ist?«
Auch nicht gerade genial. Aber von den beiden Varianten war mir diese die sympathischere.
Vielleicht konnte ich ja irgendeine Geschichte erfinden. Ich bin Illustrator, würde ich sagen. Immerhin hatte ich eine Tüte von Pearl Paint in der Hand. Ich könnte behaupten, ich hätte den Auftrag, die Illustrationen zu einem Times -Artikel über die Architektur von Lower Manhattan zu machen. Ich hätte mir diese Straße im Internet angesehen, sei dabei auf dieses Bild gestoßen und müsse jetzt unbedingt wissen, was das sei.
Lächerlich.
Ich würde Folgendes machen. Anklopfen, wenn jemand öffnete, das Foto herzeigen und einfach fragen.
Vielleicht bekam ich ja eine Antwort. Wenn man mir Fragen stellte, würde ich sie beantworten, so gut ich eben konnte. Ich würde ehrlich sein. Ich würde erzählen, dass ich einen Bruder hatte, der ganz besessen war von Whirl360, und es kam immer wieder vor, dass er
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