Fenster zum Zoo
gerechnet, die sie eingehend beobachten würden und vielleicht Anstoß daran nehmen könnten, wie sie lebte, wie sie gekleidet war, wie sie ihr Haar trug. Und wie schwerfällig sie war.
Christine und Sabine hatten nichts dergleichen getan. Manchmal hatte sie das Gefühl, sie könnten Schwestern sein, so selbstverständlich war ihr Zusammenleben. Sie selbst hatte keine Geschwister.
»Nelly. Aufstehen!«
Sabine hämmerte an ihre Tür. Aber sie konnte nicht öffnen. Sie konnte nicht aufstehen. Ihr Körper war schwer, schwerer als sonst, er gehorchte ihr nicht, war wie gelähmt, wie Blei.
»Nelly!«
Sie bekam keinen Ton heraus, als sie den Mund öffnete.
»Nelly! Ist alles in Ordnung bei dir?«
Dann schaffte sie es doch, die Tür zu öffnen.
»Du bist ja schon angezogen«, sagte Sabine und sah an ihr herunter. Aber sie sah nicht die Spuren der Nacht, sie war in Eile.
»Wir müssen los«, rief Christine. Sie wartete schon in der Diele.
»Tschüss!«
Sie konnte nicht frühstücken. Sie räumte den Tisch ab und verstaute Brot, Marmelade und Käse im Kühlschrank. Den Kaffee goss sie in eine Thermoskanne.
Als sie zur Arbeit ging, war sie viel später dran als sonst. Der Zoo lag friedlich da, wie immer, wie jeden Morgen. Hatte niemand nach dem Grizzly gesehen? War niemand in sein Gehege gegangen? Der Zoo hatte längst seine Tore geöffnet. Hatte kein Zoobesucher etwas bemerkt?
Es blieb an ihr hängen. Sie musste Alarm geben, um Hilfe schreien. Dabei hatte sie schon längst keinen Atem mehr.
2. Kapitel
Gut, dass ich ein Hobby habe«, sagte Lorenz Muschalik jedem, der ihm die Hand zum Abschied gab.
Es war der 19. Juli, ein Mittwoch und sein letzter Tag im Dienst. Das Alkoholverbot im Polizeipräsidium Köln war vorübergehend aufgehoben, und Muschalik hatte genügend Sekt kaltgestellt, sodass alle auf ihn trinken konnten. Und er hatte zwei Platten mit belegten Brötchen aus der Kantine kommen lassen, eine mit Käse und eine mit Wurst. Die Kollegen von der Mordkommission schenkten ihm zum Abschied ein Foto, ein Gruppenbild mit Chef und mit Lise Becker, der Sekretärin, vorne kniend in der ersten Reihe, im hellen Kostüm. Auf dem Passepartout hatten alle unterschrieben.
Staatsanwalt Henrik van Dörben war seiner Einladung gefolgt, ebenso Gerichtsmediziner Theo Fürbringer und der Ballistiker Kai Lennartz. Wer einen einlud, lud alle ein, obwohl sie unterschiedlicher nicht sein konnten. Kai ließ sich keine Feier entgehen, keinen Schluck Alkohol und vor allem nicht die Gelegenheit, einen Blick auf das weibliche Personal zu werfen. Er war im Präsidium für seine Affären bekannt. Er färbte seine Haare weißblond, trug flippige Kleidung und im rechten Nasenflügel ein Piercing. Er war charmant und witzig und die Frauen im Präsidium fanden ihn alle »süß«, allein Lise Becker sah ihm nicht nach.
Van Dörben und Theo waren ganz anders.
Van Dörben lebte nur für seine Gesetze und vor allem für die Lücken, die sie boten, wenn man sie nur genügend studierte. Er war geradezu versessen darauf, das Gesetz zu dehnen, wo immer es möglich war. Jeder im Präsidium wusste, dass er an den Wochenenden vor seiner jungen Familie floh, sich mit dem Gesetzbuch an irgendeinen abgelegenen Teich im Erftkreis setzte und die Angel auswarf. Gesetzeslücken ausfindig zu machen, war seine Passion, nicht das Angeln. Er mochte keinen Fisch, und er fing auch nie etwas. Wahrscheinlich angelte er sogar ohne Köder. Aber beim Angeln fand er die Ruhe, die er brauchte.
Und Theo war unten im Keller in seinen kalten Sezierräumen mit den Jahren weltfremd geworden. Er war wortkarg. Man konnte kein harmloses Schwätzchen mit ihm halten, weil er immer nur das Nötigste sagte. Er war ein Mann der Fakten. Er hasste es, wenn Gerüchte in die Welt gesetzt wurden, und im Polizeipräsidium wurde wie in jeder anderen Behörde kräftig getratscht. So blieb er meist allein, man sah ihn nie im Rur mit jemandem reden, seine Telefonate waren kurz und knapp und wenn man zu ihm gehen musste, war man in zwei Minuten wieder draußen.
Auch heute sagte Theo nichts, stand allein herum und nippte an seinem Wasserglas. Er trug eine Fliege, einen kleinen akkuraten Schnauzer und eine goldene Taschenuhr und wirkte ein bisschen wie aus einer anderen Zeit.
»Ich bin nicht gut im Reden«, hatte er Muschalik erklärt, als sie das erste Mal miteinander zu tun hatten, »ich arbeite den ganzen Tag mit Leichen. Sie sind ziemlich schweigsam.« Die einzige Unterhaltung in
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