Fenster zum Zoo
ihre Ehe sein sollte. Denn Rosa machte keine Anstalten umzuziehen. In der Zwischenzeit teilten sie sich die Kinder. Kraft, der wohl beweisen wollte, dass er ein guter Vater war, holte die Kinder so oft es ging nach Köln. Aber wenn sie bei ihm waren, wusste er nichts mit ihnen anzufangen. Fast jeder in der Abteilung hatte die Zwillinge schon gehütet, allen voran Lise Becker. Sie hatten schon viele Nachmittage mit ihr und dem Katalog mit den Fahndungsfotos als Malvorlage im Polizeipräsidium verbracht.
»Sehen wir uns mal im Zoo, Lorenz?«, fragte Kraft.
»Ja. Wir sehen uns im Zoo.«
Denn Muschaliks Hobby war der Zoo. Der Kölner Zoo.
* * *
Zu Hause stellte er den Kaktus auf die Fensterbank und schob die Aktentasche mit Inhalt weit unters Bett. Sie hatte ihren Dienst getan, sie hatte ein Anrecht auf Ruhe, wie er. Am Küchenfenster zog er sich mit einer Pinzette den Stachel aus dem Daumen und dachte nach.
Betty hatte ihn vor fünf Jahren mit all dem zurückgelassen, womit er sich nicht auskannte: mit schmutziger Wäsche, einem defekten Staubsauger, einem Fensterputzgerät, einem Dampfkochtopf und einer Tiefkühltruhe, in der geheimnisvolle Päckchen ruhten. Aber er hatte den Kampf aufgenommen, auch gegen die Einsamkeit, die über ihn hergefallen war wie ein Raubtier. Inzwischen kam er gut zurecht, allein. Er hatte den Haushalt neu organisiert, obwohl Betty damit nicht einverstanden gewesen wäre. Die Wäsche gab er in die Wäscherei, warm gegessen wurde nur während der Woche in der Kantine, den Staubsauger ersetzte er endlich durch ein neues Gerät, und Fensterputzen stellte sich als relativ einfach heraus, wenn man es mit den Schlieren nicht so genau nahm. Und das tat er nicht.
Betty hatte seine Liebe zum Zoo geteilt, auch die Patenschaft für den Marabu, die sie kurz vor ihrem Tod übernommen hatten. Die Wahl war auf den Marabu gefallen, weil die zweihundertfünfzig Euro »Betriebskosten« für ihn eher dem Gehalt eines Hauptkommissars entsprachen als etwa die Summe für einen stolzen Löwen. Außerdem riss sich niemand um ihn, er war nicht besonders schön anzusehen, weder als junges noch als ausgewachsenes Tier. Dafür, dass er zur Familie der Störche gehörte, war er geradezu hässlich.
Während der letzten fünf Jahre hatte Muschalik seine freie Zeit zwischen dem Nordfriedhof und dem Zoo aufgeteilt. Er wohnte auf der Florastraße gegenüber St. Hildegardis. Betty und er waren es leid gewesen, durch die halbe Stadt aus Klettenberg mit der KVB anzureisen. Sie hatten sich jahrelang vergebens um eine Wohnung auf der Stammheimer Straße bemüht, mit Blick auf den Zoo. Einmal wäre es ihnen beinahe gelungen. Eine ältere Dame hatte einen Platz im Altersheim gefunden und suchte einen Nachmieter. Die Wohnung wäre genau richtig gewesen für Muschalik und Betty; Wohnküche, Schlafzimmer, Bad und Balkon im obersten Stockwerk und uneingeschränkte Sicht auf den Zoo. Aber kurz bevor die Sache spruchreif geworden war, hatte Berta Heimbach ihr Angebot zurückgezogen. Sie konnte sich nicht von ihren Möbeln trennen und wollte lieber nach einer mobilen Betreuung Ausschau halten. Betty hatte Verständnis gehabt, Muschalik war wütend auf Berta Heimbach gewesen, deren Namen er nie wieder vergessen würde; so nah am Ziel, das konnte er ihr nicht verzeihen. So hatten sie sich mit einer Wohnung in der Florastraße begnügen müssen, von der ein Fußweg von nur zehn Minuten – wenn man zügig ging – zum Haupteingang des Zoos führte. Selbst zum Nordfriedhof konnte er zu Fuß gehen, die Neußer Straße hoch bis zur Friedrich-Karl-Straße und dann links auf die Merheimer Straße. Muschalik ging gern zu Fuß.
Köln-Nippes war schnell sein Veedel geworden. In dem kunterbunten, multikulturellen Stadtviertel fühlte Muschalik sich wohl. Er war nicht der einzige Fremde.
Ab heute sah alles anders aus. Muschalik war jetzt Herr seiner Zeit, jeden Tag in der Woche, im Monat, im Jahr, von morgens bis abends. Er konnte sich sein Leben ganz neu einrichten. Und er hatte fest vor, das Beste daraus zu machen, auch ohne Betty.
Aber er konnte in der Kantine des Polizeipräsidiums kein warmes Essen mehr bekommen. Er dachte daran, sich ein Kochbuch zuzulegen. Betty war eine intuitive Köchin gewesen, die nach Lust und Laune gekocht hatte, ohne schriftlichen Rückhalt. Zutaten wählte sie nach Stimmungslage aus, Gewürze nach der Jahreszeit, nach ihrem Duft und ihren Farben. So schmeckte ein gewöhnlicher Schweinebraten jedes Mal
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