Fenster zum Zoo
sollten, melden wir uns natürlich.«
»Selbstmord scheidet aus?«, fragte Kraft.
»Aber ja. Was für eine absurde Idee. Niemand lässt sich freiwillig von einem Grizzly in Stücke reißen.«
Der Grizzly durfte in sein Revier. Mit der Nase am Boden untersuchte er den Baumstamm und die Felsbrocken. In seinein Fell waren dunkle, getrocknete Blutspuren zu erkennen. Er war nervös. Die Stellen, an denen Ben Krämer gelegen hatte, mied er.
Der Zooeingang wurde freigegeben, nach kurzer Zeit hatten sich die Schaulustigen in einem Halbkreis um die Grizzly-Anlage versammelt und erste Vorschläge zur Bekämpfung derartiger Unfälle unterbreitet. Einer davon war: »Man sollte den Grizzly erschießen.«
Nelly Luxem hatte es gehört, und ihre Augen wurden schmal vor Zorn.
Bevor van Dörben wieder ins Präsidium fuhr, beauftragte er Kraft als neuen Leiter der Mordkommission, mit der Aufgabe, die nächsten Angehörigen des Toten ausfindig zu machen und zu informieren. Es klang fremd in Muschaliks Ohren, so als hätte man ihn übergangen oder vergessen. Ganz, als wäre er nicht da. Auch für Kraft war die Situation neu, denn er forderte seinen ehemaligen Chef ganz automatisch auf: »Lass uns in Ben Krämers Wohnung fahren.«
»Ich bin Pensionär«, erinnerte Muschalik ihn und sich selbst.
»Ich weiß. Fahr einfach nur mit, wegen der guten alten Zeit, ja?«
Ben Krämer wohnte rechtsrheinisch, wie in seinen blutverschmierten Papieren stand, und Muschalik war ein neugieriger Pensionär.
* * *
»Dort oben war ich noch am Sonntag mit den Zwillingen«, sagte Kraft. Sie fuhren über die Zoobrücke, und über ihnen schwebten die Gondeln der Rhein-Seilbahn.
»Und ich war früher oft mit Betty dort oben.«
»Danach sind wir im Rheinpark spazieren gegangen und über die Hohenzollernbrücke zurück in die Stadt. Sie waren fix und fertig abends. Und ich hatte meine Ruhe«, erinnerte sich Kraft.
»Betty hat es gehasst, wenn die Seilbahn plötzlich hielt, weil es einen Stau gab. Mitten über dem Rhein. Dann war sie ganz still und hat nicht hinuntergesehen. Und schaukeln durfte ich nie.«
Sie fanden Ben Krämers Wohnung im dritten Stock eines Wohnhauses in der Augustastraße in Mühlheim. Kraft klingelte, aber niemand öffnete. Mit dem Schlüssel, den der Bär nicht gefressen hatte, schloss er auf, und sie betraten drei Zimmer, Küche, Diele, Bad, Balkon. Krämer hatte offensichtlich allein gelebt. Im Wohnzimmer lag ein Adressbuch neben dem Telefon, in dem Kraft die Anschrift und die Telefonnummer der Eltern fand. Sie wohnten in Wiesbaden. Muschalik öffnete die Tür zum danebenliegenden Zimmer, Ben Krämers Schlafzimmer, spartanisch eingerichtet, mit einem Futonbett und einem Schrank auf schwarzem Teppichboden. Das dritte Zimmer war die Dunkelkammer. Dort, wie auch an allen übrigen Wänden hingen Fotos. Er hatte im National Geographie veröffentlicht, in Geo und mehrere, auch internationale Preise für das beste Tierfoto des Jahres gewonnen. Es gab Serien von Safaris, Wüstencamps und eleganten Lodges, Presse-Empfängen und Ausstellungen. Ben Krämer war ein gut aussehender junger Mann gewesen, davon war im Zoo nichts übrig geblieben. Ein Künstlertyp mit langen dunklen Haaren und einem abwesend verklärtem Blick. Er wirkte sehr schmal in seiner schwarzen Designerkleidung, auf keinem Foto war er ohne seine Ausrüstung zu sehen.
Im Wohnzimmer standen Regale mit Karteikästen voller Fotos, nach geographischen Gesichtspunkten katalogisiert.
Demnach war Ben Krämer überall gewesen, in den Tropen ebenso wie in Sibirien, in den Karpaten und den Pyrenäen, in Afrika und im Himalaja, in Skandinavien und Südostasien. Es waren außergewöhnliche Fotos, aus interessanten Perspektiven und geringer Entfernung, die einen Einblick in seine Arbeitsweise gewährten. Einen Wimpernschlag, einen Windhauch oder einen Sonnenstrahl festzuhalten, so wie Ben Krämer es gelungen war, das war nicht jedem Fotografen gegeben. Die meisten Fotos waren Schwarzweiß-Aufnahmen und Studien eines Bewegungsablaufes. Die neue Fotoreihe aus dem Kölner Zoo hing gesondert und noch ungeordnet in der Dunkelkammer.
Kraft und Muschalik setzten sich auf Ben Krämers Sofagarnitur im Wohnzimmer und sprachen über den Unfall.
»Und jetzt?«, fragte Muschalik.
»Theo wird mit Sicherheit nichts finden«, sagte Kraft und legte die Füße auf den Glastisch, »unsere Kollegen in Wiesbaden werden Ben Krämers Eltern informieren«, fuhr Kraft fort, »seine Akte wird in den
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