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Fenster zum Zoo

Fenster zum Zoo

Titel: Fenster zum Zoo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carola Clasen
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seinem kalten Keller kam von seinem Walkman, den er ständig trug. Er liebte Edvard Grieg. Beim Sezieren pfiff er dazu.
    Die Kollegen hatten alle leider nicht viel Zeit, wollten sich nur kurz blicken lassen und ihm Gesundheit wünschen für den Rest seines Lebens. Sie sagten, dass sie ihn um seine Freiheit beneideten, er solle sie genießen. Dann sprachen sie durcheinander, nicht mehr mit ihm, sondern über seinen Kopf hinweg über dienstliche Belange.
    Nach einer halben Stunde war alles vorbei, Muschalik blieb allein zurück und trug die Reste in die Teeküche, stellte das Fenster in seinem Büro auf Kipp und warf einen letzten Blick hinunter in den Hof. Dann räumte er seine Kaffeetasse, den Kamm aus der Schublade und den Schal von der Garderobe in seine Aktentasche und ließ auch den Kaktus nicht zurück, der seit Jahren auf seinem Schreibtisch in unveränderter Größe stand.
    Leise zog er die Tür hinter sich zu. Sein Namenschild fischte er aus der Plastikhalterung und zerknüllte es in seiner Hosentasche.
    »Das war’s, Muschalik«, sagte er.
    Er hatte sich seinen Abschied anders vorgestellt.
    Als er am Morgen zum letzten Mal um sechs Uhr den Wecker zum Schweigen gebracht hatte, hatte er einen unangenehmen Druck in der Magengegend verspürt. Er hatte sich lange auf den neuen Lebensabschnitt gefreut. Seine Frau Betty, die vor fünf Jahren gestorben war, und er, sie hatten Pläne gemacht für die Zeit danach. Sie wollten vor allem gemeinsam reisen, sie hatten noch nicht viel von der Welt gesehen. Ihr zuliebe hatte er auch nach ihrem Tod auf der Vorruhestandsregelung bestanden, sogar Urlaubstage angesammelt um früher aufhören zu können, und sich geweigert darüber nachzudenken, dass die Dinge nun anders lagen – für einen Witwer wie ihn. Heute morgen aber hatte er gewünscht, der Tag selbst wäre schon vorbei. Er liebte es nicht, im Vordergrund zu stehen. Er fürchtete eine Rede vom Chef und viel Brimborium um seine Person. Er fürchtete vor allem, nicht Herr seiner Gefühle zu sein. Nach dem Wecken hatte er kalt geduscht, sich sorgfältig rasiert, seinen besten Anzug angezogen, in dessen Stoff kleine Karos eingewebt waren, und war ein letztes Mal mit schwerem Herzen und seiner Aktentasche zum Dienst gegangen.
    Jemand tippte auf seine Schulter, und als er sich umdrehte, fiel ihm der Kaktus aus der Hand. Olaf Kraft von der Mordkommission stand hinter ihm und sah zufrieden aus. Kraft war sein Nachfolger.
    Kraft lief stets in nicht mehr ganz schwarzer, leicht ergrauter Kleidung herum und hatte sich für eine Stoppelfrisur entschieden – seine Haare waren höchstens einen Zentimeter lang. Auch er hatte sich zurückhaltend gezeigt, keine Umarmung unter Männern, kein Schulterklopfen.
    Kraft bückte sich und hob den Kaktus vorsichtig auf. Die herausgefallene Erde verwischte er mit dem Schuh.
    »Alles klar, Lorenz?«, wollte er wissen.
    »Natürlich.«
    Muschalik nahm den Kaktus ungeschickt an sich und stach sich in den Daumen.
    »Du hast es so gewollt, nicht wahr?«
    »Den Vorruhestand, meinst du?« Muschalik sah irritiert auf den Blutstropfen an seinem Daumen.
    »Ja, den auch. Aber ich meine die Abschiedsfeier.«
    Er hatte mit Kraft über seine Bedenken vor dem letzten Tag im Dienst gesprochen und dass er sich wünschte, es wäre ein ganz normaler Tag, nur eben der letzte.
    »Es war nicht einfach, den Chef von seiner Rede abzuhalten und der Lise die Girlanden zu verbieten, das kannst du mir glauben. Wir hätten dich gern groß gefeiert, das weißt du.«
    »Danke«, sagte Muschalik und leckte das Blut ab.
    Kraft war ein Imi und Vater von sechsjährigen Zwillingen, Tim und Tom. Sie hatten rote Haare und blaue Augen. Toms Gesicht war von Sommersprossen wie mit Sternen übersät, Tims Haare kringelten sich zu kleinen Locken. Ihr Vater konnte keine Ähnlichkeit mit ihnen vorweisen. Kraft wirkte immer ein bisschen orientierungslos. Sein Privatleben schien ein Chaos zu sein. Muschalik und Kraft hatten sich auf einem Gewerkschaftsseminar kennen gelernt. Kraft wollte Karriere machen, und als er von Muschalik hörte, dass in Köln der Posten des Hauptkommissars demnächst neu zu besetzen sei, hatte er sich beworben. Vor einem halben Jahr war er dann von Wiesbaden nach Köln gekommen, zur Einarbeitung. Er hatte seine Familie vorerst dort zurückgelassen, die nachziehen wollte, sobald er eine passende Wohnung gefunden hätte. Muschalik hatte den Verdacht, dass die räumliche Trennung von seiner Frau Rosa auch ein Test für

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