Fenster zum Zoo
war. Es war zu spät sich zu verstecken oder still zu verhalten, die Füße im Wasser nicht mehr hin und her zu schieben.
Mit den Jahren waren ihr grausame Bilder von Bären in die Hände gefallen. Bären als lebende Zapfsäulen für angebliche Medikamente, Bären in Verließen und viel zu engen Käfigen. Einsame Bären mit traurigen Augen, gequält und misshandelt. Bären, denen man die Tatzen abgehackt hatte, um Souvenirs daraus zu machen. Und ihre Jäger, die stolz Bärenköpfe und Felle in die Kamera hielten. Es waren immer Männer, die so etwas taten; ihr Misstrauen hatte sich schon früh auf Männer konzentriert.
Den nächsten lebenden Braunbären hatte sie im Zoo gesehen: Kaspar. Und sie hatte immer auf seine Tatzen schauen müssen, die zwar groß und breit aussahen, aber auch weich und empfindsam. Alles andere hatte sich von selbst entwickelt. Die Arbeit im Zoo in den Schulferien, während die Mitschülerinnen verreist waren, der erste Kontakt mit dem Bären – da hatte ihre Berufswahl schon festgestanden. Nach dem Schulabschluss war sie zurückgekommen, und ihr eigentliches Leben hatte beginnen können. Kaspar war noch da gewesen und hatte sie wiedererkannt, als hätte er auf sie gewartet. Gefolgt waren die Ausbildung zur Tierpflegerin im Zoo und das Angebot zu bleiben, bei dem Bären. Ein Leben lang, das war es, was sie wollte. Nur das. Er würde sie nie verlassen. Solange es den Bären gab, wäre sie nie mehr allein.
Die Sonne ging über der Mülheimer Brücke auf. Der Himmel wurde heller, das weiche Licht verdrängte fast übergangslos die Nacht. Sie hörte einen surrenden Ton, ein Klicken und Schnappen. Sie verließ sich nicht auf ihr Gehör, sondern blickte sich vorsichtig um. Der Angler stand auf, holte die Angel ein, packte seine Tasche, klappte den Hocker zusammen und ging ganz dicht hinter ihr zur Boltensternstraße hinauf.
»Morgen«, brummte er, und sie zuckte zusammen.
»Geht nichts über einen Sonnenaufgang am Rhein. Aber ich muss noch zur Arbeit.«
Er sah sich nicht mehr nach ihr um, und sie atmete auf.
Sie musste hier verschwinden, ehe die Stadt erwachte und alle sie sehen würden. Sie trocknete die Füße mit ihren Socken ab, zog die feuchten Socken über und stieg in die Arbeitsschuhe, an denen noch der Dreck der letzten Nacht klebte. Erde und Matsch aus dem Bärengehege, Stroh aus der Höhle, Trittspuren auf der Kappe von ihren eigenen Schuhsohlen, Kratzer von den Krallen des Bären. Auch ihre Arbeitshose war dreckiger als sonst. Am linken Hosenbein entdeckte sie einen Riss, über die Haut darunter zogen sich Lehmstreifen.
Sie hätte im Schutz der Dunkelheit nach Hause gehen sollen, jetzt würde man ihr alles ansehen.
Der Autoverkehr hatte noch nicht begonnen. Sie ging mit schnellen Schritten über die stille Boltensternstraße und bog am Blumengroßmarkt links in die Barbarastraße ein.
Ein Zeitungsjunge fuhr auf seinem Fahrrad ohne Licht an ihr vorbei, ein herrenloser Hund hob an einer Haustür sein Bein, und die Amseln auf den Dächern begannen in den Morgen zu singen.
Zu Hause schlich sie in ihr Zimmer, so wie sie sich vor ein paar Stunden herausgeschlichen hatte, auf Socken. Sie schloss die Tür hinter sich ab. Das tat sie sonst nie. Die Arbeitsschuhe stellte sie in den Schrank, dann legte sie sich aufs Bett, so wie sie war, in der dreckigen Arbeitshose mit dem Riss im linken Hosenbein. Auch das tat sie sonst nie.
Es war keine Nacht wie jede andere gewesen.
Sie schloss die Augen und wartete darauf, dass die Wecker ihrer beiden Mitbewohnerinnen links und rechts von ihr zu klingeln anfingen. Sie hatten ihre Wecker auf die gleiche Zeit gestellt, sie fuhren zusammen zur Arbeit. Wenn sie gingen, war es auch für sie an der Zeit aufzustehen. Aber heute war alles anders. Heute würde sie nicht aufstehen können.
Als die Wecker klingelten, erschrak sie, obwohl sie nicht geschlafen hatte. Sie lauschte den Geräuschen. Türen schlugen, Schubladen wurden auf- und zugemacht. Christine ging ins Bad. Christine ging immer an ungeraden Tagen zuerst ins Bad. Sie hatten ihr Ritual, damit sie rechtzeitig fertig wurden.
Während Christine duschte, machte Sabine das Frühstück für drei Personen. An geraden Tagen war es umgekehrt.
Christine und Sabine waren die einzigen Freundinnen, die sie je gehabt hatte, abgesehen von Kinderfreundschaften, die vergingen. Sie waren ein Glücksgriff. Als sie sich auf das Inserat hin gemeldet hatte – Kleines Zimmer in Frauen-WG –, hatte sie mit Frauen
Weitere Kostenlose Bücher