Ferien vom Ich
geschäftlich verbunden ist, dein Tagebuch über Waltersburg hast schicken lassen.«
»Ich dir mein - hast du denn mein Tagebuch geschickt erhalten?«
»Ja, natürlich. Nicht das Original, aber eine Maschinenabschrift.«
»Oh, dieser Mensch - dieser Stefenson!«
»Weißt du gar nichts darum?«
»Nichts! Gar nichts! Stefenson hat sich zwar mal meine kleinen Aufzeichnungen entliehen; aber ich habe geglaubt, das geschehe nur aus purer Neugier. Nun hat er eine Abschrift machen lassen und sie dir geschickt.«
»Ja. Ich bekam die Blätter im Juli. Ein Vierteljahr lang habe ich es ausgehalten, sie ungelesen in einer Schublade zu verwahren; ich habe sie manchmal verbrennen wollen, aber nicht den Mut dazu aufgebracht, und habe sie endlich doch gelesen, täglich wieder gelesen, bis meine Kraft alle war, so daß ich notdürftig meine Angelegenheiten ordnete, und -und nun eben da bin.«
»Das haben meine wenigen Aufzeichnungen zuwege gebracht?« fragte ich verwundert.
»Ja, du weißt nicht, was das heißt, keine Heimat mehr zu haben. Die anderen Auswanderer finden ja doch mehr oder weniger alle eine neue Heimat, neue Freunde, neue Kreise, in denen sie sich wohl fühlen. Ich habe nichts von alledem gesucht und bin ganz losgelöst von aller Wurzelerde gewesen. Da ertrug ich dein Tagebuch nicht, nicht die Schilderungen von dem alten Nest Waltersburg, nicht die Berichte über die Mutter, selbst die Geschichten über das Spießertum in der Heimat haben eine - nun ja, ich gestehe es - eine rasende Sehnsucht nach Hause in mir angefacht. Und dann auch das - auch das - aber lassen wir das!«
Er hatte sagen wollen, das von dem Kinde, und brachte es nun nicht über die Lippen. Vielleicht war das Kind die Hauptsache gewesen. Aber ich sah, in wie schwerer Erregung der Mann schon war, und hütete mich, dieses ernste Thema nun zur Sprache zu bringen.
Joachim stand auf, ging ein paarmal schweigend durch die Stube, riß dann plötzlich den Mantel von den Schultern, warf ihn auf das Bett, dehnte sich mit hochgestreckten Armen und sagte tief aufatmend:
»Ach Gott, ich bin doch froh, daß ich hier bin.«
Wir reichten uns stumm die Hände.
Dann sagte ich:
»Nun, Joachim, wollen wir uns aber freuen und als Männer beraten, was zu tun ist.«
Er sah mich von der Seite an.
»Du weißt wohl natürlich auch nicht, daß mich Mister Stefenson als zweiten Arzt für dein Sanatorium berufen hat?«
»Hat er das?«
»Ja, allerdings nur unter der Bedingung, daß mir deine Idee von den Ferien vom Ich eingeht. Und sie geht mir ein, mein Junge; sie ist vernünftig und fruchtbar; ich gratuliere dir dazu !«
Eine rote Welle schlug mir ins Gesicht.
»Schönen Dank, Joachim. Du weißt, wie sehr ich dich immer mir für überlegen gehalten habe.«
Er winkte, schwermütig den Kopf schüttelnd, ab. Dann setzte er sich mir gegenüber und ergriff wieder meine Hand. »Sieh mal, Junge, daß du mich nun fünf Jahre lang gesucht hast - das - nun ja, es gibt eben Schulden, die sich nicht bezahlen lassen. Was nun aus mir wird, weiß ich nicht. Ich will allen Starrsinn ablegen; ich will mich mal ganz wieder von den Wellen der Heimat treiben lassen, ich will auch gutem Rat zugänglich sein. Aber ich möchte nicht erkannt werden; ich möchte nicht, daß all der Schwatz und Klatsch - ach, laß uns die heilige Stunde nicht durch schmutzige Erinnerung verderben. Wenn es möglich wäre, daß ich als Doktor Harton aus Baltimore vor den Leuten gälte, sähe ich mir gern auf einige Zeit das Leben in der Heimat an. Da kam mir der Vorschlag dieses kuriosen Mister Stefenson, als Arzt in eure Anstalt einzutreten, ganz gelegen. Jeder legt dort seinen Namen ab, jeder lebt unerkannt seinen Tag, jeder ist fern von dem glücksfeindlichen Schwarm, der einem aus der Vergangenheit nachdringt, kurz, lieber Fritz, ich möchte der erste sein, der in deiner Zufluchtsstätte Ferien macht von seinem Ich.« Beide Hände streckte ich dem Bruder entgegen. Wie ein offenbares Zeichen himmlischen Segens für meine Gründung stand der langvermißte Bruder vor mir als erster und willkommenster Gast meines Ferienheims. Wie konnte sich ein Glück herrlicher fügen! In dem überströmenden Gefühl des Augenblicks sagte ich: »Joachim, du hast diese Stunde eine heilige genannt. Zürne mir nicht, wenn ich dich nun noch bitte: sprich auch ein einziges gutes Wort von der kleinen Luise.«
Da wurde sein Gesicht finster.
»Ich kann noch nicht - laß mir Zeit!«
Und ich schwieg. Es wurde still in der
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