Ferien vom Ich
eigenen Wertes zu erziehen.
Ich wußte, daß Mister Stefenson in die kleine Luise vernarrter war, als je ein Vater oder Großvater in ein Kind war. Allmonatlich war er unter irgendeinem Vorwand einmal nach Thüringen verschwunden; das Mädchen hatte sich an den Mann, den sie als ihren liebevollsten Freund erkannte, jedenfalls dankbar angeschlossen, und dem alten Seehund, den wahrscheinlich nie eine zärtliche Hand gestreichelt hatte, tat diese Kindesliebe so wohl, daß er diesmal auf allen kaufmännischen Vorteil vergaß und wie ein verliebter Narr handelte. Mochte er es tun!
Stefenson reiste ab.
Wie hatte er gesagt? Keine Gewalt der Erde wird mich hindern, das Kind zunächst mal in der Tracht eines Knaben zu erziehen. Drei Tage nach Stefensons Abreise bekam ich einen Brief von ihm.
»Mein Lieber! Die Idee, Luise als Knaben zu kleiden, habe ich aufgegeben. Denn sie will nicht. Sie heult, daß sie ein Junge werden soll. Auch die Haare mag sie nicht abgeschnitten kriegen. Da ist nichts zu machen; Luise bleibt ein Mädel. Hier lasse ich sie aber nicht; sie hat es viel zu schlecht. Ich will mal sehen, daß ich das Kind zunächst in Neustadt unterbringen kann. Ich weiß da eine gute Familie, die mir den Gefallen gegen Entschädigung tun wird. Und ich kann dann die Erziehung täglich beaufsichtigen. Diskretion Ehrensache, namentlich gegen Ihren Bruder, der mir für die Erziehung des nur außerordentlich geschickt zu behandelnden Kindes nicht geeignet erscheint. Wir kommen Montag mit irgendeinem Zug. Am Bahnhof zu erwarten brauchen Sie uns nicht.
Stefenson.«
Am nächsten Tage sollte ich Joachim zum Heimweg abholen und hatte versprochen, vorher die Mutter zu unterrichten. Wir saßen beim Frühstück zusammen; ich versuchte ein paar Anläufe, brachte aber die Botschaft nicht heraus. Die Mutter verwunderte sich sehr. Dann machte ich einen Spaziergang durch die Stadt. Als ich zurückkam, stand die Mutter am Fenster und schaute wie so oft den Strudeln des Johannisbrunnen zu. Die ersten Schneeflocken flogen durch die Luft und hüllten den Platz in traulichen weißen Schimmer; aber die Sehnsucht dieser Frau ging wieder in die Weite, und sie sah nichts von der silbernen Pracht um sie her.
Auch ich war jahrelang in der Fremde. Doch ich war überzeugt, die Mutter hatte kaum einmal an mich gedacht, wenn sie an Joachim siebenmal dachte. Ich ging an ihrer Tür vorbei nach meinem Zimmer. Da saß ich, bis es hohe Zeit war, nach Neustadt aufzubrechen, um zur verabredeten Stunde dort zu sein. Endlich sagte ich mir, daß ich ein Geselle von kindischer Eifersucht sei, und ging in das Zimmer der Mutter.
»Ich habe dir etwas mitzuteilen, Mutter; erschrick nicht!« sagte ich, und die nervöse Frau erschrak natürlich aufs schwerste. »Es handelt sich um Joachim!«
»Um Gottes willen - ist ihm etwas passiert - ist er in Not -willst du zu ihm fahren?«
Ich mußte lächeln. Zu ihm fahren! - Daß ich damit mein Lebenswerk aufgegeben hätte, daran dachte die Mutter nicht. »Es ist nichts Schlimmes, Mutter; es ist etwas Gutes, was ich dir von Joachim zu sagen habe.«
»Sage es mir, Fritz, will er - will er nach Hause kommen?«
»Ja, er kommt schon heute.«
Da stieß sie einen Schrei aus, dann weinte sie laut, schlug in die Hände, rannte durchs Zimmer und sprach laute Dankesworte zu Gott, der ihr das größte Glück beschieden habe, das es für sie gebe. Als sie etwas ruhiger wurde, fragte sie: »Und er ist ganz von selbst gekommen, oder hast du ihm noch einmal geschrieben, daß er kommen soll?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Ganz von selbst gekommen«, sagte sie selig, »der treue Sohn!« In trockenem Tone entgegnete ich:
»Mutter, es wird lange dauern, ehe ich mit Joachim eintreffe, den ich in Neustadt abhole. Erst in der Dämmerung kommen wir. Inzwischen rege dich nicht allzusehr auf und vergiß nicht deinen Baldriantee zu trinken.«
Das nahm sie ungnädig auf.
»Baldriantee - wie kannst du jetzt von so etwas reden.«
»Ich werde natürlich mit nach Neustadt fahren.«
»Nein, Mutter; Joachim wird nur unter der Bedingung hier leben, daß er von den Leuten nicht erkannt wird. Deshalb wird er als Arzt in meine Kuranstalt eintreten.«
»Und nicht bei mir wohnen?«
»Nein, er wird im Ferienheim wohnen.«
»Oh - oh, du nimmst ihn mir?«
»Ich nehme ihn dir nicht -«, entgegnete ich unwillig; »mache mit Joachim selbst ab, wie ihr es halten wollt; ich werde mich da nicht einmischen.«
Ich ging verdrossen meines Weges. Aber
Weitere Kostenlose Bücher