Ferne Ufer
mir ins Gesicht.
»Könnte schlimmer sein«, sagte ich zu mir.
Ermutigt zog ich mir das Nachthemd an, stellte das Thermostat ein, prüfte die Riegel an Türen und Fenstern und sah nach dem Brenner im Keller.
Doch beim Anblick des großen Doppelbetts, das mich unberührt unter seiner Satindecke im Schlafzimmer erwartete, sanken meine Lebensgeister wieder. Plötzlich entstand vor meinem inneren Auge ein so deutliches und scharfes Bild von Frank wie schon seit Monaten nicht mehr.
Vielleicht lag es an meinem möglicherweise bevorstehenden Aufbruch, daß ich jetzt wieder an ihn denken mußte. Denn in diesem Zimmer - in diesem Bett - hatten wir uns zum letztenmal voneinander verabschiedet.
»Willst du nicht endlich ins Bett kommen, Claire? Es ist schon nach Mitternacht.« Frank hatte sich bereits hingelegt und hielt ein Buch auf den Knien. Im weichen Lichtschein der Lampe sah er aus, als schwebte er in einer warmen Luftblase, die ihn vor dem
kalten Zimmer abschirmte. Es war Anfang Januar, und obwohl die Heizung ihr Bestes tat, gab es nur einen einzigen warmen Platz im Haus: im Bett, unter den dicken Decken.
Ich lächelte ihn an, erhob mich aus meinem Sessel und ließ den dicken, wollenen Hausmantel von meinen Schultern gleiten.
»Willst du schlafen? Tut mir leid. Ich habe gerade versucht, die Operation von heute morgen zu verarbeiten.«
»Ich weiß«, entgegnete er trocken. »Das sieht man dir an. Deine Augen sind ganz glasig, und dein Mund steht offen.«
»Tut mir leid«, wiederholte ich. »Aber ich habe keine Kontrolle über mein Gesicht, wenn ich nachdenke.«
»Und was bringt dir das ganze Grübeln?« fragte er, während er ein Lesezeichen in sein Buch steckte. »Du hast alles getan, was in deiner Macht steht. Wenn du dir jetzt Sorgen machst, änderst du auch nichts mehr… Ach, lassen wir das.« Er zuckte die Achseln und klappte das Buch zu. »Das habe ich dir schon hundertmal gesagt.«
»Allerdings«, entgegnete ich. Fröstelnd kletterte ich ins Bett und legte mir den Morgenmantel über die Füße. Wie auf Kommando rutschte Frank zu mir herüber, und ich kuschelte mich an ihn.
»Ach, warte, ich muß das Telefon holen.« Ich schlug die Decken zurück und stand wieder auf, um das Telefon von Franks Seite auf meine zu bringen. Er ging gern schon am frühen Abend zu Bett und telefonierte mit Studenten und Kollegen, während ich neben ihm saß und las oder Aufzeichnungen machte. Aber er mochte es ganz und gar nicht, wenn er nachts durch Anrufe aus dem Krankenhaus geweckt wurde. An diesem Abend hatte ich Anweisung gegeben, mich über den Patienten, den ich operiert hatte, auf dem laufenden zu halten. Wenn irgend etwas Unvorhergesehenes geschah, mußte ich womöglich in aller Eile zum Krankenhaus fahren.
Frank grunzte, als ich das Licht ausschaltete und wieder ins Bett schlüpfte. Aber nach einer Weile rutschte er zu mir herüber und legte mir den Arm um die Taille. Ich drehte mich auf die Seite und schmiegte mich an ihn. Und während meine Zehen warm wurden, fand ich allmählich Ruhe.
»Ich habe nachgedacht.« Franks Stimme, die aus der Dunkelheit hinter mir kam, klang verdächtig beiläufig.
»Hhmmm?« Ich war in Gedanken noch bei der Operation und mußte mich anstrengen, um in die Gegenwart zurückzufinden. »Worüber?«
»Über mein Urlaubssemester.« In einem Monat wollte Frank für ein Jahr mit seiner Lehrtätigkeit aussetzen. Er hatte vor, mehrere kurze Reisen in den Nordosten der Vereinigten Staaten zu unternehmen, um Material zu sammeln, und dann für sechs Monate nach England zu gehen. Die letzten drei Monate wollte er in Boston verbringen, um zu schreiben.
»Ich habe mir gedacht, daß ich gleich nach England fahre«, sagte er vorsichtig.
»Gut, warum nicht? Das Wetter wird zwar schrecklich sein, aber da du ohnehin die meiste Zeit in Bibliotheken verbringst…«
»Ich möchte Brianna mitnehmen.«
Ich verstummte. Plötzlich schien sich all die Kälte des Zimmers in einem Knoten in meinem Magen zusammenzuballen.
»Aber sie kann nicht fort. Sie hat nur noch ein Semester bis zum Abschluß. Warte einfach, bis wir im Sommer zu dir stoßen. Ich habe für dann schon meinen Urlaub eingereicht…«
»Ich gehe fort. Für immer. Ohne dich.«
Ich rückte von ihm ab und setzte mich auf. Dann schaltete ich das Licht an. Frank blinzelte unter seinem zerzausten Haarschopf zu mir hoch. Daß seine Schläfen grau geworden waren, verlieh ihm einen Anstrich von Würde, der auf die empfänglicheren unter
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